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Massen sehr gut integriert Norddeutsche strömten im Mittelalter nach England

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Grabbeigaben aus einem Grab auf dem Friedhof Issendorf in Niedersachsen: Ein Forschungsteam analysierte die Genome von hunderten Menschen, die zwischen den Jahren 200 und 1300 in England, Irland, Dänemark, den Niederlanden und Deutschland bestattet wurden.

Grabbeigaben aus einem Grab auf dem Friedhof Issendorf in Niedersachsen: Ein Forschungsteam analysierte die Genome von hunderten Menschen, die zwischen den Jahren 200 und 1300 in England, Irland, Dänemark, den Niederlanden und Deutschland bestattet wurden.

(Foto: Landesmuseum Hannover/dpa)

Sie kamen über die Nordsee: Im frühen Mittelalter strömten der Studie eines 70-köpfigen Forschungsteams zufolge Massen von Menschen, insbesondere aus Norddeutschland, nach England. Und dort wurden die Zuwanderer offenbar zum großen Teil sehr gut und sehr schnell integriert.

Nach dem Ende des Römischen Reiches hat England binnen weniger Jahrhunderte eine massive Umwälzung seiner Bevölkerung erlebt. Verantwortlich dafür war einer Studie zufolge die kontinuierliche Einwanderung im frühen Mittelalter von Angelsachsen aus dem kontinentalen Nordseeraum: aus Teilen des heutigen Dänemarks und der Niederlande sowie vor allem aus Norddeutschland - also Schleswig-Holstein und Niedersachsen. Die Zuwanderer ließen sich vor allem im Süden und Osten von England nieder und waren oft überraschend gut in die Gesellschaft integriert, wie ein internationales Forschungsteam im Fachblatt "Nature" schreibt.

Bislang war die Bevölkerungsentwicklung auf den Britischen Inseln im 1. Jahrtausend nach Christus umstritten - insbesondere nach dem Ende des Römischen Reiches im späten 5. Jahrhundert. Als wichtigste historische Quelle gelten die im 8. Jahrhundert verfassten Schriften des Gelehrten Beda Venerabilis, die jedoch viele Fragen offen lassen.

Großer Einfluss aus Norddeutschland

Archäologinnen graben in Oakington, Cambridgeshire die Überreste dreier Frauen aus. Diese waren nicht miteinander verwandt und wiesen jeweils einen unterschiedlichen Anteil an WBI- und CNE-Abstammung auf. (WBI: Western Britain and Ireland, CNE: Continental North European)

Archäologinnen graben in Oakington, Cambridgeshire die Überreste dreier Frauen aus. Diese waren nicht miteinander verwandt und wiesen jeweils einen unterschiedlichen Anteil an WBI- und CNE-Abstammung auf. (WBI: Western Britain and Ireland, CNE: Continental North European)

(Foto: Duncan Sayer, University of Central Lancashire/dpa)

Archäologische Funde wie auch Ortsnamen deuteten bereits auf einen großen Einfluss des kontinentalen Nordseeraums und vor allem der norddeutschen Elbe-Weser-Region hin. Dafür nennt das Team um Stephan Schiffels vom Leipziger Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie einige Beispiele: etwa die für den norddeutschen Raum typischen Grubenhäuser - also Gebäude um eine in den Boden eingelassene Grube -, Verzierungen von Objekten etwa mit Tiermustern oder Bestattungsbräuche.

Doch bislang waren sowohl die Größenordnung als auch die Umstände der Zuwanderung im Mittelalter - Migration oder Invasion - unklar. Das etwa 70-köpfige Forschungsteam untersuchte diese Fragen, indem es die Genome von 460 Menschen analysierte, die zwischen den Jahren 200 und 1300 in England, Irland, Dänemark, den Niederlanden und Deutschland bestattet wurden. Fast 280 davon lebten in England, insbesondere im Zeitraum von 450 bis 850 nach Christus.

Anstieg von 1 auf 15 Prozent

Frühes angelsächsisches Grab mit Keramikgefäß, Fibeln und einem römischen Löffel. Dieses Grab 66 aus Oakington enthielt die Leiche einer Frau gemischter Abstammung.

Frühes angelsächsisches Grab mit Keramikgefäß, Fibeln und einem römischen Löffel. Dieses Grab 66 aus Oakington enthielt die Leiche einer Frau gemischter Abstammung.

(Foto: Duncan Sayer, University of Central Lancashire/dpa)

Die Resultate verdeutlichen das Ausmaß der Zuwanderung im frühen Mittelalter: In der Bronzezeit - also vor etwa 3000 Jahren - lag der Anteil der Bevölkerung nordeuropäisch-kontinentaler Abstammung demnach noch bei etwa 1 Prozent. Während der Römerzeit stieg der Anteil auf vermutlich etwa 15 Prozent - der Wert steht jedoch stark unter Vorbehalt, denn er beruht auf der Analyse von lediglich sieben Menschen.

Im 9. Jahrhundert liegt die Abstammung von angelsächsischen Stämmen - also Jüten aus dem westlichen Dänemark, Friesen der östlichen Niederlande, Angeln aus Schleswig-Holstein und Sachsen aus Niedersachsen - im Osten von England bei 76 Prozent. Im Südwesten und Westen ist der Anteil dagegen deutlich geringer. Unterschiede in der Abstammung zwischen Männern und Frauen fanden die Forscher nicht.

Oft Zugehörigkeit zur Oberschicht

Der Mann, dessen Überreste hier freigelegt werden, wurde mit einem Messer begraben. Er war zu 99,99 Prozent kontinentaler nordeuropäischer Abstammung.

Der Mann, dessen Überreste hier freigelegt werden, wurde mit einem Messer begraben. Er war zu 99,99 Prozent kontinentaler nordeuropäischer Abstammung.

(Foto: Duncan Sayer, University of Central Lancashire/dpa)

Interessant ist, dass Menschen angelsächsischer Abstammung nicht selten zur oberen Schicht der damaligen Gesellschaft zählten: So waren Männer, die mit Waffen beigesetzt wurden, zu ähnlichen Anteilen angelsächsischer und lokaler Herkunft. Frauen mit Migrationshintergrund wurden sogar häufiger mit Grabbeigaben, insbesondere mit Schmuck wie Broschen und Perlen, bestattet als Frauen einheimischer Herkunft.

Allerdings gibt es auch im Osten von England deutliche Differenzen zwischen einzelnen Fundorten: "Wir entdeckten teils erhebliche Unterschiede, wie sich diese Migration auf die Gemeinschaften auswirkte", sagt der Archäologe Duncan Sayer von der University of Central Lancashire. "An einigen Orten sehen wir deutliche Anzeichen für eine aktive Integration zwischen Einheimischen und Einwanderern, wie im Fall von Buckland bei Dover oder Oakington in Cambridgeshire. In anderen Fällen jedoch, wie in Apple Down in West Sussex, wurden Menschen mit eingewanderten und solche mit einheimischen Vorfahren getrennt voneinander auf dem örtlichen Friedhof bestattet."

Dessen ungeachtet folgert das Team im Fachblatt "Nature", dass das östliche und südöstliche England gemeinsam mit dem kontinentalen Nordseeraum und der westlichen Ostsee während des frühen Mittelalters ein genetisches Kontinuum bildete - also einen bezüglich der Bevölkerung recht einheitlichen Raum.

Auch viele Menschen französischer Abstammung

Bei den Analysen fanden die Forscher im Südosten Englands auch viele Menschen mit französischer Abstammung - allerdings bei Weitem nicht in dem Maße wie angelsächsischer Herkunft. Das Team vermutet, dass diese Zuwanderung aus dem westlichen Europa erst später erfolgte. In Wales, Schottland und Irland gab es dagegen kaum Spuren kontinentaler Zuwanderung im Mittelalter.

"Unsere Resultate stützen überwältigend die Sicht, dass die Bildung der frühmittelalterlichen Gesellschaft in England nicht einfach das Ergebnis einer kleinen Elite-Wanderung war, sondern dass eine Massenzuwanderung eine substanzielle Rolle gespielt haben muss", schreibt das Team.

Damals scheint der angelsächsische Einfluss auf die Bevölkerung seinen Höhepunkt erreicht zu haben. Heutzutage stammen noch rund 40 Prozent des Erbguts heutiger Engländer von angelsächsischen Vorfahren ab, während etwa 20 bis 40 Prozent ihres genetischen Erbes aus westlicheren Regionen - möglicherweise dem heutigen Frankreich oder Belgien - stammen.

Quelle: ntv.de, Walter Willems, dpa

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