
Bundeskanzler Scholz und SPD-Fraktionschef Mützenich beim SPD-Parteitag in Berlin.
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Nach Putins Aussage, dass sich Russland mit keinem NATO-Staat anlegen will, müssten die Alarmglocken lauter denn je schrillen, denn so ähnlich hatte er über die Ukraine gesprochen. Doch die Sozialdemokraten geben sich pazifistischem Wunschdenken hin - und strafen Realpolitiker ab.
Wenn Olaf Scholz einmal nicht mehr Kanzler ist, werden drei Dinge von ihm in Erinnerung bleiben: seine Erinnerungslücken, seine Unfähigkeit zur Kommunikation und seine "Zeitenwende"-Rede unmittelbar nach dem russischen Überfall auf die Ukraine und im Februar 2022, mit der der Sozialdemokrat zeigte, dass er das Zeug zum großen Staatslenker gehabt hätte. Nach Putins Aggression "lautet unser Maßstab: Was für die Sicherung des Friedens in Europa gebraucht wird, das wird getan."
Danach folgte eine quälend lange Zeit, in der die Regierung unter Schweigen des Kanzlers und Ausreden aller Art Lieferungen an die Ukraine hinauszögerte. Auf dringend benötigte Taurus-Marschflugkörper wartet das sich verteidigende Land nach wie vor. Andererseits gehört Deutschland inzwischen zu den größten Lieferanten von Militärausrüstung an die Ukraine. Scholz begründet seinen Kurs seit Monaten so: "Russland darf nicht gewinnen und die Ukraine darf nicht verlieren." Genau das erlebt die Welt seit Monaten: einen Stellungskrieg wie vor 100 Jahren, bei dem niemand gewinnt und niemand verliert.
Natürlich kann es sein, dass hinter der Haltung von Scholz Strategie steckt, etwa dass Deutschland die wenigen einsatzfähigen Waffen, die es hat, nicht auch noch rausrücken will für den Fall, dass Russland einen NATO-Staat angreift und die Amerikaner nach der Wahl eines Republikaners zum Präsidenten sagen: euer Ding! Sollte es so sein, möge der Kanzler sich erklären, damit das Rätselraten ein Ende hat. Sehr viel wahrscheinlicher ist, dass er vor Putins Andeutungen zurückweicht, Atomwaffen einzusetzen. SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich gewährte einen Einblick in die Gedankenwelt der Genossen. Auf dem jüngsten Parteitag lobte er Scholz dafür, in Peking von China "die Zusage" erhalten zu haben, dass "niemals Atomwaffen eingesetzt werden dürfen in kriegerischen Auseinandersetzungen".
Folklore für die Pazifisten
"Ich bin sicher, das hat uns vieles erspart", sagte Mützenich. Es klang, als hätte Scholz einen Atomkrieg verhindert. Dabei tun die Chinesen, was sie wollen. Der Einfluss Deutschlands auf die Kommunisten in Peking liegt nah bei null. Mützenich zeigte auch ansonsten einmal mehr Realitätsferne. Er warb für Diplomatie, um den Krieg in der Ukraine zu beenden - was gut und richtig ist. Der SPD-Mann erklärte, es gehe nicht darum, "mit einem Kriegsverbrecher zu verhandeln, sondern um deutlich zu machen, dass wir keine Chance unterlassen, um dieser Diplomatie vielleicht auch eine Chance zu geben".
Wer es so windelweich formuliert, glaubt vermutlich selbst nicht an das, was er sagt. Das war übliche Parteitagsfolklore, um die Pazifisten und Russland-Liebhaber in der SPD zu umgarnen. Nach wie vor gibt es keinen Anlass zu glauben, dass Putin verhandeln will. Scholz und die SPD müssten zudem endlich kundtun, was die Ukraine dem Imperator im Kreml geben könnte, damit sich der Krieg für ihn gelohnt hat. Der behauptete neulich: "Russland hat keine Gründe, kein Interesse - weder geopolitisch noch wirtschaftlich noch militärisch - mit Staaten der NATO zu kämpfen." Das hatte Putin auch vor dem Überfall auf die Ukraine gesagt. Und warum richtet er dann nahe zur finnischen Grenze einen "Militärdistrikt Leningrad" ein und droht dem Nachbarland mit "Problemen"?
Eine Lernkurve wie das Wattenmeer
Spätestens jetzt müssten die Alarmglocken läuten. Aber bislang bleibt es bei vagen Ankündigungen und die Hoffnung, dass Joe Biden die Präsidentschaftswahl in den USA gewinnt, damit die Amerikaner weiter ihre schützende Hand über Europa halten. Mützenich hatte gesagt, er habe Putin "komplett unterschätzt". Die Konsequenz daraus ist für ihn nicht, endlich zu akzeptieren, dass die Kriegsgefahr so hoch ist wie seit Jahrzehnten nicht und die Bundesrepublik handeln muss. Mützenich streichelte lieber die Genossen vom linken Flügel und zeigte sich "entsetzt" über "das Gequassel auch aus Deutschland", womit er den früheren Außenminister Joschka Fischer, Mitglied der Grünen, meinte. Der hatte Europa zu Aufrüstung auch mit Atomwaffen aufgefordert: "Solange wir einen Nachbarn Russland haben, der der imperialen Ideologie Putins folgt, können wir nicht darauf verzichten, dieses Russland abzuschrecken."
Die Lernkurve der SPD ist jedoch flach wie das Wattenmeer. Sie bräuchte sich nur die Warnungen aus dem Baltikum in der Zeit weit vor Putins Einfall in die Ukraine vor Augen führen. Allein Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius und der SPD-Außenpolitiker Michael Roth haben die Zeichen der Zeit erkannt, vermutlich auch Scholz, der aber wieder einmal schweigt. Pistorius und Roth fordern im Gleichklang Deutschland dazu auf, sich für einen Verteidigungskrieg zu rüsten. Sie lassen sich von der bitteren Erkenntnis leiten, dass Diktatoren, die Kriege anfangen, nur durch Waffengewalt gestoppt werden können. "Frieden schaffen ohne Waffen" bleibt ein schöner, aber unrealistischer Traum.
Roth wurde für seine Haltung abgestraft, er fiel bei der SPD-Vorstandswahl durch. Schlimmer als die Niederlage war das höhnische Gelächter bei Verkündung des Ergebnisses. Ein Sieg für die SPD-Linken um Mützenich, die die Idee ablehnen, Deutschland "kriegstüchtig" zu machen, wie Pistorius und Roth sie vertreten. Wie sehr sich die Sozialdemokraten von der "Zeitenwende", die ihr Kanzler postulierte, absetzen, zeigt auch die Tatsache, dass es nur einen Tag dauerte, bis SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert den Vorschlag des Verteidigungsministers einer militärischen Dienstpflicht nach schwedischem Vorbild einkassierte. Gegen die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht gibt es gute Argumente. Aber Pistorius' Ansatz einfach als nicht mehrheitsfähig in der SPD abzutun, spricht Bände, wie es der ganze Parteitag der inszenierten Geschlossenheit tat: Friede, Freude, SPD.
Hoffen, dass Putin mal nicht gelogen hat
Man kann nur zu dem Schluss kommen, dass die SPD die "Zeitenwende" nicht ernst genug nimmt. Die Bundesrepublik mit ihrer schlecht aufgestellten Armee und Marine ist von Kriegstüchtigkeit und Verteidigungsbereitschaft weit entfernt. Die Aufrüstung geht maximal schleppend voran. Kühnert und andere führende Sozialdemokraten beteuern stets, das NATO-Ziel einzuhalten, zwei Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung in den Militärhaushalt zu stecken. Aber das wird frühestens 2024 erreicht und nur durch das Einbinden des Sondervermögens für die Bundeswehr.
Das traurige Ergebnis dieser Politik ist gerade wieder sichtbar. Deutschland als Exportnation ist auf globalen Handel angewiesen. Knapp zehn Prozent unseres Außenhandels werden nach Berechnungen des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) über den Suezkanal verschifft, der ins Rote Meer mündet und Europa sowie Asien verbindet. Deutschland plant, sich an der US-geführten Militärallianz zur Absicherung der Schifffahrt in der Krisenregion durch Angriffe von Huthi-Rebellen zu beteiligen oder sie zu unterstützen. Nur wann und wie, ist offen. Falls der Bundestag zustimmt, muss die deutsche Marine erst einmal ein kriegstaugliches Schiff finden, das entsendet werden kann. Helfen wollen den Amerikanern Großbritannien, Kanada, Frankreich, Italien, die Niederlande, Norwegen, Bahrain und die Seychellen. Heißt: Ein winziger Inselstaat ist dabei, während Deutschland, wie es aus "Regierungskreisen" hieß, erst noch "praktische und rechtliche Fragen" klären muss. Wenn das die Zeitenwende ist, dann hoffen wir mal, dass Putin nicht wieder gelogen hat mit seiner Aussage, die NATO-Staaten in Ruhe zu lassen.
Quelle: ntv.de