VW und die "Sachsen Classic 2010" Im Neuwagen auf Oldtimer-Rallye
27.08.2010, 07:00 Uhr
Startvorbereitungen auf dem Platz der Völkerfreundschaft in Zwickau.
(Foto: Textfabrik/Busse)
Als Forum zur Imagepflege werden Oldtimer-Ausfahrten bei den Autoherstellern immer beliebter. Mit enormen Aufwand an Personal und Material engagierte sich dieses Jahr zum Beispiel Volkswagen bei der 8. Sachsen-Classic. Dem Wolfsburger Konzern gelang dabei Erstaunliches: Er konnte auch einen Neuwagen an den Start bringen.
Galten vor wenigen Jahren Besitz und Pflege eines historischen Fahrzeug noch als elitäres Hobby verschrobener Technik-Freaks, so hat sich das Oldtimer-Virus seit 2005 in Deutschland fast epidemisch ausgebreitet. Nach Erkenntnissen des Kraftfahrtbundesamtes (KBA) hat sich die Zahl der amtlich beglaubigten und deshalb für den öffentlichen Straßenverkehr zugelassenen Oldtimer in dieser Zeit um mehr als ein Drittel erhöht. Rund 210.000 Fahrzeuge sind demnach mit einem "H"-Kennzeichen unterwegs. Dieser Buchstabe steht für "historisch" und wird auf dem Kennzeichen am Ende der Ziffernkombination geführt.
Die Markenverteilung unter den klassifizierten Oldtimern ist wesentlich übersichtlicher als auf dem Gebiet der aktuellen Gebrauchsautos. Rund zwei Drittel stammen aus einheimischer Produktion, wobei der VW Käfer mit 23.380 Fahrzeugen das Feld klar anführt, gefolgt vom Mercedes "Strich 8". Britische und amerikanische Erzeugnisse folgen auf den Plätzen. Das 1997 erstmals eingeführte "H"-Kennzeichen bringt für die Besitzer der Autos durchaus Vorteile: Der Gesetzgeber honoriert die Erhaltung verkehrshistorischer Preziosen mit einem von Hubraum- und Emissionswerten unabhängigen Steuersatz von 191,73 Euro im Jahr.
Nur 700 Kilometer in 36 Jahren
Für die Zuerkennung des speziellen Nummernschildes ist ein Mindestalter von 30 Jahren erforderlich. Die hat der Karmann Ghia T14 aus dem Baujahr 1974 zwar deutlich überschritten, im Vergleich zu anderen Teilnehmern der Sachsen Classic ist er aber kaum dem automobilen Kindergarten-Alter entwachsen. Stattliche 90 Jahre trägt zum Beispiel der 1920 gebaute Laurin & Klement 300 Rennwagen auf seinen offen liegenden Blattfedern. Der VW Karmann aus Osnabrück ist aber ein Sonderfall, nicht nur weil sein Name zu denen einheimischer Autos gehört, die am häufigsten falsch ausgesprochen werden.
Dem Karmann "giea" (nicht "dschieha") fehlt das, was sonst den unverwechselbaren Charakter eines Oldtimers ausmacht: eine Biografie. Vorbesitzer, Austauschaggregate, Unfallschäden, Restaurierungsprotokolle – Fehlanzeige. Der Wagen ist eine Leihgabe aus der etwa 130 Fahrzeuge umfassenden Karmann-Sammlung, deren Bestand die Klassik-Abteilung des Volkswagen-Konzern gerne der eigenen Oldtimer-Garage zuschlagen würde. Das cremefarbene Coupé mit luftgekühltem 1600er-Heckmotor ist praktisch neuwertig, seit der Fertigungs-Endkontrolle hat es im Schnitt 20 Kilometer pro Jahr zurückgelegt. 50 PS schienen damals ausreichend, einen nur 850 Kilo leichten Zweitürer zu bewegen, dessen Insassen sich weder elektrischer Fensterheber, einer Lüftung, die den Namen verdient, Lendenwirbelstützen oder Airbags erfreuen konnten.
Mit 14 Teilnehmer-Teams rund 20 Mitarbeitern für technische Unterstützung und Organisation dokumentiert der VW-Konzern materiell wie personell, wie wichtig er die Pflege der automobilen Kultur nimmt. Unter ihnen ist auch Gerd Krause. Der 72-jährige, dem scherzhaft nachgesagt wird, er kenne in der VW-Klassiker-Sammlung "jede Zündkerze mit Vornamen", ist ein Meister der gehörbasierten Fehler-Analyse.
Prominenz in jeder Hinsicht
"Auf den Spuren der Pioniere" lautete das Motto der Sachsen Classic 2010. Das südöstliche Bundesland gilt als eine der Wiegen des deutschen Automobilbaus. DKW, Hoch und Wanderer, später Sachsenring und nach der Wende Volkswagen, Porsche und BMW sind Marken, die Standorte dort unterhielten oder unterhalten. Mehr als 500 Zulieferer kommen dazu. Allein im Bereich Chemnitz-Zwickau arbeiten mehr als 40.000 Menschen in der Automobil-Industrie.
Die zum 8. Mal ausgetragene Rundfahrt gehört neben den 2000-Kilometer-Durch-Deustchland zu den prominentesten Oldtimer-Veranstaltungen im Klassik-Kalender. Dabei ist Prominenz nicht nur an der Zahl der Meldungen und dem Engagement der Hersteller zu messen, sondern auch am Bekanntheitsgrad einzelner Teilnehmer. In Künstlerkreisen, aber auch auf politischer Ebene gilt es mittlerweile als schick, sich in einem historischen Automobil sehen zu lassen. Kabarettist Urban Priol, Tatort-Kommissar Uwe Steimle und Joachim H. Luger – Lindenstraßen-Zuschauern besser bekannt als "Vater Beimer" - reihten sich diesmal ins Starterfeld ein. Für ehemalige Automobilmanager ist es dagegen so etwas wie Ehrensache, der eigenen Marke auch im Ruhestand fahrend verbunden zu bleiben.
Für Carl H. Hahn, bis 1993 Vorstandsvorsitzender der Volkswagen AG, scheint allerdings eher die Vokabel "Unruhestand" zutreffend. "Dort drüben auf dem Hügel habe ich als Vierjähriger das Ski laufen gelernt", ruft er seinem Beifahrer zu, während er das Käfer 1303 Cabrio mit fester Hand durch das Erzgebirge steuert. Der 84-Jährige strahlt eine beeindruckende Vitalität aus, als er mit 14 weiteren Teams von "Volkswagen Classic" die einzelnen Wertungsprüfungen in Angriff nimmt. Für ihn ist die Drei-Tages-Tour durchs Vogtland, auf den Fichtelberg und bis nach Dresden eine Art Heimspiel. Von 1934 bis 1943 lebte der Sohn eines DKW- und späteren Audi-Managers in Chemnitz. Auf dem Fahrersitz des silbernen Cabrios stellt der ehemalige Konzern-Lenker unter Beweis, dass er auch heute noch das Steuer nur ungern aus der Hand gibt. Auf das Angebot seines Co-Piloten, ihn im Falle von Erschöpfung am Steuer abzulösen, antwortet Hahn: "Nein, nein, Ihren Job möchte ich ja auch nicht machen".
Konzentration gewinnt
Kein Wunder, denn die Herausforderungen an die Beifahrer sind immens. Die diesmal 580 Kilometer lange Wettfahrt als gemütliches Schaulaufen gelangweilter Veteranen-Sammler zu sehen, hieße, die anspruchsvollen Etappenaufgaben und den sportlichen Ehrgeiz vieler Teilnehmer massiv zu unterschätzen. Nicht nur, dass die Teams ein detaillierte Wegbeschreibung, das Roadbook, abarbeiten müssen und die vorgegebene Strecke nicht verlassen dürfen (das gibt Strafpunkte), es sind Zeitlimits einzuhalten (andernfalls Strafpunkte), definierte Kurz-Distanzen nach exakter Sekundenvorgabe zu bewältigen (andernfalls Strafpunkte) und Durchfahrtskontrollen per Stempel zu belegen (noch mehr Strafpunkte).
Reichlich Gelegenheit also, in Stress zu geraten, wenn plötzlich die Symbolik des Roadbooks nicht mehr mit der Realität in Einklang zu bringen ist oder bei Ablauf der Zeitvorgabe noch drei Meter bis zur rettenden Lichtschranke zurückzulegen sind. Auch in der Zeitnahme selbst haben die Organisatoren der Rallye Fallstricke versteckt, denn für die Punktlandung auf der Zeitvorgabe ist von großer Bedeutung, ob mit Lichtschranke oder Kontaktschlauch gemessen wird. Je nachdem, wie groß der vordere Überhang des Wagens ist, muss der Beifahrer den richtigen Zeitpunkt zum Auslösen der Stoppuhr präzise bestimmen können.
Höchste Konzentration und geringstmögliche Ablenkung helfen dabei. So wie bei Luciano Viaro und Enrico Mussinelli. Sie gewannen wie schon im vergangenen Jahr die Sachsen Classic mit deutlichem Abstand. Was andere als großes Handicap empfinden würden, könnte Co-Pilot Mussinelli die Konzentration erleichtert haben: Er ist stark sehbehindert und navigiert mit einem Roadbook, das in der Blindenschrift Braille ausgeführt ist.
Quelle: ntv.de