Erst Covid, dann Influenza? Deutschland steuert durch die Grippe-Saison
04.01.2024, 16:40 Uhr Artikel anhören
Corona lässt Deutschland nicht los: Abwasser-Daten liefern zusätzliche Hinweise zum Infektionsgeschehen.
(Foto: picture alliance/dpa)
Das Infektionsgeschehen scheint sich im Winter 2023/24 zu verändern: Daten deuten auf einen Rückgang bei Arztbesuchen und Atemwegserkrankungen hin. Wie stark wirken Feiertagseffekte auf die Zahlen? Die Meldungen aus den Kliniken lassen hoffen.
Vier Jahre nach Beginn des weltweiten Coronavirus-Ausbruchs begleiten Infektionsrisiken und krankheitsbedingte Personalausfälle weiter das öffentliche Leben in Deutschland: Im Winter 2023/24 kursieren neben den saisonüblichen Schnupfen- und Erkältungserregern verstärkt auch Corona-, RSV- und zunehmend Influenza-Viren in der Bevölkerung, wie aktuelle Daten des Robert-Koch-Instituts (RKI) zeigen.
Seit Mitte Dezember sieht sich Deutschland mit der anlaufenden Grippewelle konfrontiert. "Von Influenzaerkrankungen sind bisher vornehmlich Kinder im Schulalter und junge Erwachsene betroffen", heißt es im aktuellen RKI-Wochenbericht. "Die RSV-Aktivität und die Covid-19-Aktivität sind weiterhin hoch." Insbesondere Kinder unter zwei Jahren seien von schwereren Verläufen bis hin zu einer Krankenhauseinweisung mit RSV-Infektion betroffen, betont das RKI. Bei älteren Menschen führe dagegen Corona derzeit am häufigsten zu schwer verlaufenden Erkrankungen. Experten raten dringend zur Impfung. In den Jahren vor Corona dauerte die Grippewelle oft bis weit in den März.
Hinweis: Dieser Beitrag bezieht sich auf die Entwicklung im Winter 2023/24 und wird nicht aktualisiert.
In den Stichproben der virologischen Überwachung ist der Anteil der entdeckten Coronaviren zum Jahresende hin bis auf 16,3 Prozent gesunken. Auch bei den RSV-Viren scheint der Höhepunkt der seit dem Herbst laufenden Welle überwunden. Gleichzeitig nahm der Anteil der Erreger der echten Grippe jedoch deutlich zu. Seit der 51. Kalenderwoche liegt der Influenza-Anteil in den ausgewerteten Stichproben über 20 Prozent.
Damit ist die Richtschnur überschritten: Sobald mehr als jede fünfte Probe positiv auf Influenza getestet wird, spricht das RKI offiziell vom Beginn einer Grippewelle.
Gleichzeitig geht die Zahl der gemeldeten Arztbesuche mit Covid-Diagnose und auch die Zahl der Atemwegserkrankungen deutlich zurück. Ist in Sachen Infektionswellen also das Schlimmste bereits überstanden? Voll belastbar sind die Zahlen noch nicht, wie das RKI zu bedenken gibt: "Die Daten aus der 52. Kalenderwoche sind nur mit Einschränkungen interpretierbar", warnt das Institut. "In diesem Zeitraum gab es auch in den Vorjahren während der bundesweiten Ferien und Feiertage Abweichungen sowie größere nachträgliche Änderungen der Ergebnisse."
Wie viele Menschen sind derzeit hierzulande mit welchem Erreger infiziert, wie viele Personen sind an Covid erkrankt? Antworten auf diese Fragen lassen sich seit dem Wegfall der Corona-Testpflicht nur noch indirekt ermitteln. Die Zahl der Corona-Ansteckungsfälle wird in Deutschland seit dem Frühjahr 2023 nicht mehr flächendeckend erfasst.
Im Fallmeldesystem des RKI tauchen seit dem Ausstieg aus den Bürgertests nur noch jene Fälle auf, die den Gesundheitsbehörden überhaupt bekannt werden - etwa durch systematische Meldungen aus Kliniken und Arztpraxen. Die große Masse der Infektionen bleibt mutmaßlich unerkannt. Die Daten aus den Kliniken deuten aber darauf hin, dass die Zahl der schweren Covid-Verläufe während des Winters nicht weiter ansteigt. In den meisten Bundesländern melden die Intensivstationen zu Beginn Anfang Januar 2024 sogar eine deutlich rückläufige Entwicklung bei der Anzahl der betreuten Covid-Intensivpatienten.
Das RKI stützt sich bei der Einschätzung der aktuellen Infektionslage auf ein Bündel an weiteren, sehr viel weicheren Indikatoren. Eine Methode, die allgemeine Krankheitslast in Deutschland zu erfassen, bietet etwa das Projekt GrippeWeb. Anhand freiwilliger Meldungen aus der Öffentlichkeit errechnet das RKI hier wöchentlich die sogenannte ARE-Rate, also den geschätzten Anteil der Bevölkerung mit einer akuten Atemwegserkrankung (Akute Respiratorische Erkrankung, ARE).
Mit einer Infografik zur ARE-Rate zeigt ntv.de den Verlauf der Infektionswellen des Jahres 2023 im Vergleich zu den Vorjahren, wobei die Erkrankungsrate hier in Prozent angegeben wird. Das Ergebnis: Ende Dezember 2023 bewegt sich diese Kennzahl weiterhin auf dem Niveau des vergangenen Winters 2022/23. Kurz zur Erklärung: Auf den Seiten des RKI und im ARE-Wochenbericht wird die Häufigkeit akuter Atemwegsinfektionen in der Bevölkerung seit Anfang September 2023 als Inzidenz pro 100.000 Einwohner angegeben.
Das RKI begründet die Umstellung von Prozentwert zur Inzidenz mit einer "besseren Vergleichbarkeit der Daten". Die Umrechnung ist denkbar einfach: "Eine ARE-Inzidenz von 3000 ARE-Fällen pro 100.000 Einwohnern entspricht einer ARE-Rate von 3,0 Prozent", erklärt das RKI. Aktuell liegt die ARE-Rate bei 7,3 Prozent. Das RKI geht in seinen Hochrechnungen also von 7300 Atemwegserkrankungen je 100.000 Einwohnern aus, Tendenz fallend.
Anhand der ARE-Rate und der Inzidenz können Experten den Beginn und den Verlauf von Infektionswellen normalerweise zuverlässig erkennen und in ihrem Ausmaß einschätzen. In der vereinfachten Visualisierung sind größere Bewegungen selbst für Laien gut erkennbar. Inwiefern aktuelle Ausschläge auf das Coronavirus zurückgehen, lässt sich aus diesen Angaben allerdings nicht ableiten. Auslöser einer ARE-Erkrankung können schließlich verschiedene Erreger sein, vom harmlosen Infekt mit Schnupfenviren (zum Beispiel: Rhinoviren) über herkömmliche Erkältungen bis hin zur echten Influenza, RSV oder Sars-CoV-2.
Das RKI versucht, diese Wissenslücke durch Stichprobenerhebungen zu schließen. Für die "virologische Surveillance" der Arbeitsgemeinschaft Influenza (AGI) werden wöchentlich einzelne Rachenabstriche aus ganz Deutschland analysiert und im Labor nach verschiedenen Erregern durchsucht. Im Ergebnis erscheint ein einigermaßen belastbares Bild: Die Entwicklung der aktuellen Viruslast in Deutschland wird mit den Anteilen der einzelnen Erreger-Kategorien erkennbar.
Die Stichprobe, auf der die Daten beruhen, ist allerdings vergleichsweise klein, die Aussagekraft beschränkt. Bundesweit wurden zuletzt im Schnitt rund 240 Proben pro Woche analysiert. Die breite Streuung der eingesandten Proben erlaubt in der Zeitreihe dennoch Rückschlüsse auf die Entwicklung in der Bevölkerung. In der Regel ist die Ausbreitung bestimmter Viren wie etwa Influenza, RSV und Corona in diesen Datensätzen gut zu erkennen, ebenso wie der Beginn oder das Abebben etwaiger Ansteckungswellen.
Die zuverlässigstee und beste Datenquelle zur Covid-Lage bietet damit weiterhin das Divi-Intensivregister der Deutschen interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmediziner (Divi). Die dort verwendeten Daten stammen direkt aus den Kliniken und ermöglichen eine unmittelbare, unabhängige und flächendeckende Übersicht zum Infektionsgeschehen in Deutschland. Die dort erhobenen Fallzahlen bilden die Grundlage für den belastbarsten derzeit verfügbaren Indikator zur Corona-Lage.
Der Grund ist simpel: Covid-Infektionen fallen im Krankenhausalltag schnell auf. In den Kliniken werden Patienten im Verdachtsfall routinemäßig auf Sars-CoV-2 getestet, da infizierte Patienten eine gesonderte Behandlung benötigen - auch, um Ansteckungen unter den besonders vulnerablen Patienten und dem Personal im Krankenhaus zu vermeiden.
Das Erfassungsnetz ist damit vergleichsweise eng. Laborbestätigte Fälle werden routinemäßig ans Gesundheitsamt und auch an das Intensivregister gemeldet, das somit eine der wenigen noch brauchbaren Kennzahlen zur Einschätzung der Pandemie-Lage zur Verfügung stellen kann. Die behandelnden Pflegekräfte und das medizinische Personal stehen in Sachen Corona weiter an vorderster Front.
Aus den Divi-Daten lassen sich mit geringem zeitlichem Verzug auch Hinweise zum regionalen Infektionsgeschehen in den Bundesländern ableiten. Wenn die Zahl der Infektionen in der Bevölkerung zunimmt, bleibt das in den Krankenhäusern nicht unbemerkt - die Divi-Daten schlagen aus.
Die Entwicklung auf den Intensivstationen erlaubt außerdem auch Rückschlüsse auf mögliche Veränderungen im Krankheitsbild. Sollte eine der neuen Corona-Varianten tatsächlich ansteckender sein oder schwerere Krankheitsverläufe auslösen, würde sich dies schnell auch in den Divi-Daten zeigen. Anfang Januar 2024 bewegen sich die Fallzahlen der Covid-Intensivpatienten in der Mehrheit der Bundesländer nach unten und signalisieren somit insgesamt weiterhin keine alarmierenden Entwicklungen.
Zusätzliche Daten zur Einschätzung der Pandemielage steuern die niedergelassenen Ärzte bei: Bis zu 350 Arztpraxen beteiligen sich nach Angaben des RKI jede Woche am bundesweiten Corona-Monitoring des RKI. Aus der Gesamtzahl der ärztlich attestierten Covid-19-Infektionen wird ebenfalls ein Inzidenzwert errechnet, der bundesweite Trends erkennbar macht.
Auf regionale Auswertungen verzichtet das RKI wie bei den meisten neuen Indikatoren jedoch - unter anderem, weil die verfügbaren Fallzahlen für eine Aufschlüsselung nach Bundesländern viel zu klein sind. Aktuell bewegt sich Deutschland mit hochgerechnet 23 Covid-Fällen je 100.000 Einwohnern auf dem Niveau der Corona-Welle aus dem vergangenen Frühjahr.
Nach langer Vorbereitungszeit liegen außerdem seit Herbst 2023 Informationen aus der sogenannten Abwasser-Surveillance vor. Für das Projekt werden an Kläranlagen regelmäßige Abwasserproben entnommen, um darin nach Genspuren des Coronavirus zu suchen. Der Zusammenhang ist belegt: Je mehr Sars-CoV-2-Genmaterial im Abwasser zu finden ist, desto stärker zirkuliert das Virus in der Bevölkerung.
Die bundesweit gemittelte Viruslast zieht im Dezember 2023 steil an. Seit Mitte November erst veröffentlicht das RKI einen eigenständigen wöchentlichen Bericht mit den Abwasser-Daten von mehr als 100 Standorten aus ganz Deutschland. Für das Pandemieradar von RKI und Bundesgesundheitsministerium wird aus den verfügbaren Daten jede Woche ein bundesweiter Querschnitt der Viruslast im Abwasser berechnet.
Der Vorteil dieser Methodik: Die Kennzahl ist unabhängig vom Meldegeschehen. Auch nicht diagnostiziertes Infektionsgeschehen wird davon erfasst. Der Nachteil: Das Verfahren ist recht aufwändig und nicht frei von methodischen Einschränkungen. Bei der Bewertung müssen verschiedene Einflussfaktoren, wie etwa die "Verwässerung" der Probe durch heftigen Regen, berücksichtigt und herausgerechnet werden. Von der Probenentnahme bis zur Veröffentlichung der Daten können gut zwei Wochen vergehen.
In der bundesweiten Auswertung schwankt deshalb die Zahl der meldenden Standorte von Woche zu Woche. Insbesondere die Werte der jeweils letzten Meldewoche basieren in der Regel auf unvollständigen Meldungen und werden in der Folgewoche anhand der Nachmeldungen korrigiert. Das RKI betont, dass die Aussagekraft der Ergebnisse noch eingeschränkt ist. Die Auswahl sei nicht repräsentativ, eine Messung an allen Standorten unmöglich.
Quelle: ntv.de, mmo/lst/cwo