
Stephanie Auras-Lehmann schreibt zu ihrem Bild: "Neuhof, 1987, mitten auf dem See: Meine Mama machte aus jedem noch so winzigen Ausflug und Urlaub ein Abenteuer. Mit ganz viel Leidenschaft zeigte sie mir die Welt."
(Foto: privat/Stephanie Auras-Lehmann)
Die Fotografin Jessica Barthel hatte die stereotype Berichterstattung über Ostdeutsche satt - und richtete mit "Schwalbenjahre" einen Instagram-Kanal ein, auf dem frühere DDR-Bürger Aufnahmen aus alten Familienalben teilen und Kindheitserinnerungen wieder aufleben lassen.
Grau, ärmlich, und jeder Zweite war ein Spitzel: So eindimensional schien der Leipziger Fotografin Jessica Barthel die Berichterstattung über das Leben in der ehemaligen DDR in den meisten Fällen. "Dabei konnte der Alltag durchaus vielseitig und bunt sein. Die Menschen haben dort schließlich auch den ersten Kuss erlebt, sich für die Diskothek herausgeputzt oder sind mit ihrer Familie in den Sommerurlaub gefahren", sagt die 36-Jährige.
Diese Facetten des ostdeutschen Alltags sah sie aber medial kaum repräsentiert. Im vergangenen Jahr saß sie dann mit ihrer zweijährigen Tochter bei strömendem Regen auf einer sächsischen Landstraße im Auto fest und lauschte einer Radio-Sendung zum Thema "30 Jahre Mauerfall". Darin geklärt wurden vorrangig Fragen wie jene, ob man mit einer Feinstrumpfhose wirklich den Keilriemen eines Trabis reparieren konnte. Als sie wieder nur diese alten Klischees hörte, wurde Barthel wütend - und wollte es besser machen.
Aus ihrer Wut entstand auf Instagram das Mitmach-Projekt "Schwalbenjahre", das nun auch als Buch erschienen ist. Der Name ist eine Hommage an den in der DDR überaus beliebten Simson-Roller, kann aber auch metaphorisch verstanden werden. "Der Vogel Schwalbe ist ein Symbol für Hoffnung, Liebe, aber auch für die persönliche Freiheit. Momente der Hoffnung, der Liebe und auch der Freiheitsgefühle konnten in der DDR trotz Mauer durchaus existieren", so Barthel. In wöchentlichen Take-Overs bespielen jeden Montag unterschiedliche Personen den Instagram-Kanal, öffnen ihre Familienalben und gewähren so intime und berührende Einblicke in das wahre Leben hinter der Mauer - über das viele trotz unzähliger Dokumentationen zum Thema und Kinohits wie "Good Bye, Lenin!" immer noch erstaunlich wenig wissen.
Das Private, nicht das Politische
"Eine Frau, die in den sechziger Jahren in Westdeutschland aufgewachsen ist, schrieb mir und bedankte sich, dass sie auf 'Schwalbenjahre' die 'richtige DDR' zu sehen bekommt. Als Kind seien ihr völlig falsche Bilder und Vorstellungen vermittelt worden - sie war dann sehr bewegt, zu sehen, dass es 'drüben' auch glückliche Kinder gab. Das hat mich wirklich sehr berührt", erzählt Barthel.
Dabei will sie keinesfalls die Vergangenheit idealisieren. Viele ihrer Abonnenten und Mitwirkenden seien Nachwendekinder, die über alte Familienalben einen Zugang zum Leben ihrer Eltern und Großeltern suchen. "Ich wollte Menschen den Raum geben, Erinnerungen und Alltägliches aus der DDR-Vergangenheit zu zeigen - ohne die Reduzierung auf vorgefertigte Erzählmuster, wie Fluchtgeschichten oder Mangel. Ich habe Instagram als Medium gewählt, weil es ermöglicht, in Interaktion miteinander zu treten, Fragen zu stellen und sich auszutauschen", so Barthel. Das Projekt ist dabei bewusst nicht politisch, sondern konzentriert sich auf die privaten Momente abseits von SED-Parteitagen, FDJ-, Pioniertreffen oder Montagsdemonstrationen.
Eine Aufnahme zeigt zum Beispiel einen Vater, der mit seinem kleinen Sohn in der Badewanne sitzt, davor steht seine Tochter im Kinderschlafanzug und blickt zur Seite. In der Bildbeschreibung auf Instagram schildert Jana Prochnow, die auf der Aufnahme aus dem Jahr 1983 zu sehen ist, die Szene: "Mein drei Jahre jüngerer Bruder und ich liebten das Baden. Beheizt wurden diese Badezimmer mehr schlecht als recht mit einer Wärmelampe, die an der Wand hing. Das Geräusch, wenn sie sich erwärmte, und den zunehmenden Rotton der Heizstäbe kann ich aktiv in meiner Erinnerung abrufen. Ich staune heute noch gelegentlich über die Vielzahl an Shampoos und Duschgels, mit denen wir förmlich überschüttet werden. Wir hatten in der DDR einen Kinderbadezusatz, auf dem Etikett war eine gelbe Ente abgebildet, die Flüssigkeit war blau und die Glasflasche war zum Teil mit einer welligen Oberfläche versehen. Der Geruch war ziemlich ernüchternd, aber die Hauptsache war: Wir konnten eine Schaumparty feiern." In Alltagsszenen wie diesen finden viele andere ihre Kindheitserinnerungen wieder. "Zum Riechen und Anfassen nah", schreibt eine Abonnentin.
Nach dem Mauerfall war nicht alles eitel Sonnenschein
Barthels Zugang zur Materie ist auch persönlich motiviert: Ihre Familie stammt aus Leipzig, ihre Eltern stellten nach ihrer Hochzeit im Jahr 1989 einen Ausreiseantrag auf eine Flitterwochen-Reise nach Ungarn. Zwei Tage nach der Trauung flohen sie mit der damals fünfjährigen Jessica im Trabant über Ungarn und Österreich nach Bayern und kamen wenige Tage vor dem Mauerfall in ihrer neuen westdeutschen Heimat an. Barthel wuchs im Berchtesgadener Land auf.
Ihre Eltern hätten es zu Beginn dort nicht immer leicht gehabt, sagt die Fotografin. "Mein Vater betont immer, dass die Bilder vom Mauerfall, von Ost- und Westdeutschen, die sich in den Armen liegen und Sektflaschen köpfen, nicht der Realität entsprechen. Wir wurden im Westen eher mit Mitleid als großer Freude empfangen, nach dem Motto: Ihr Armen, jetzt habt ihr es auch geschafft", sagt sie. Ihre Familie erfuhr vor allem zu Beginn auch Diskriminierung: Barthels Vater arbeitete als Installateur und bekam statt dem Fünfmarkstück, das seine westdeutschen Kollegen als Trinkgeld erhielten, oft Bananen zugesteckt. "Meine Eltern haben auch bei der Wohnungs- und Jobsuche viele Absagen erhalten und mussten lange mit Vorurteilen kämpfen", so Barthel.
Auch heute noch sei Deutschland immer noch zwischen Ost und West gespalten, sagt sie. "Wie weit wir von einer wirklichen deutschen Einheit entfernt sind, ist bei den Unterschieden in Renten und Löhnen und dem geringen Anteil von Ostdeutschen in Führungspositionen immer noch spürbar. Vielfach würden Ostdeutsche vor allem als abgehängte AfD-Wähler dargestellt, ins Lächerliche gezogen und Erfolgsgeschichten immer noch zu selten erzählt. Ihr Projekt versteht sie als Gegenentwurf dazu.
Quelle: ntv.de