Universell und humanistisch Autor Aitmatow ist gestorben
10.06.2008, 21:53 UhrWie einen Superstar hatten die deutschen Leser den kirgisischen Schriftsteller Tschingis Aitmatow noch zur Leipziger Buchmesse im Vorjahr gefeiert. "Dshamilja" (1958), sein zu Sowjetzeiten entstandenes Meisterstück, war nicht nur beliebte Pflichtlektüre im DDR-Deutschunterricht. In der Story über die Liebe einer verheirateten Kirgisin zu einem verwundeten Soldaten sahen viele eine der schönsten Liebesgeschichten aller Zeiten. Das dünne Buch, das mit der traditionellen Moral brach, verschaffte dem gelernten Viehzüchter den internationalen Durchbruch. Er galt als berühmtester Schriftsteller aus der früheren Sowjetunion. Am Dienstagnachmittag starb Aitmatow im Klinikum Nürnberg an den Folgen einer schweren Lungenentzündung im Alter von 79 Jahren.
In dem zentralasiatischen Land Kirgistan löste die Todesnachricht große Bestürzung aus. Das Kulturministerium in Bischkek hatte 2008 mit Blick auf den 80. Geburtstag des Autors am 12. Dezember zum "Aitmatow-Jahr" ausgerufen, einen Aitmatow-Nationalpreis gestiftet und die Sanierung des Aitmatow-Museums in seiner Geburtsstadt Scheker im malerischen Talas-Tal im Norden des Landes verfügt.
Hoffnung auf politischen Umbruch
Die nordkirgisische Provinz in Zentralasien mit ihren Legenden und Mythen, Märchen und Liedern inspirierte ihn für seine universelle und humanistische Literatur. Er stieg damit zum größten nichtrussischen Schriftsteller der Sowjetunion auf und fand seinen Weg in die Weltliteratur. Sein Perestroika-Roman "Die Richtstatt" (1987) schürte wie kaum ein anderes Buch in der Vorwendezeit in der DDR die Hoffnung auf einen politischen Umbruch. Hier kamen im Sozialismus tabuisierte Themen wie Drogen und Kriminalität und die Kritik an der Planwirtschaft zur Sprache.
Im Westen Deutschlands wurde besonders seine große Erzählkunst gelobt. Gerade die auf das Lesen zwischen den Zeilen spezialisierten DDR-Bürger schätzten seine subtile Kritik. "Der Tag zieht den Jahrhundertweg" (1981) erzählt von einem kasachischen Hirtenvolk, das seine Gefangenen zu Sklaven machte.
Feinfühlige Sprache
An Einzelschicksalen verstand es Aitmatow, die großen Weltthemen mit einer präzisen und äußerst feinfühligen Sprache abzuhandeln: Neben der Suche nach Glück und Liebe handeln seine Erzählungen, Novellen, Dramen und Romane immer wieder von Staatsmacht, Umweltzerstörung und Generationenkonflikten.
Aitmatow wandte sich stets gegen Globalisierung, Massenkultur und Marktwirtschaft. Besonders schätzten seine deutschen Leser, dass er Menschlichkeit über Parteilichkeit und Ideologie, mythologisches Denken über Materialismus stellte. In Erinnerung sind auch seine Werke "Abschied von Gülsary" (1966) und "Der weiße Dampfer" (1970).
Vorwurf eines Anpassers
Doch besonders in Russland ist immer wieder auch Kritik an ihm laut geworden. Den Vorwurf eines Anpassers zu Sowjetzeiten handelte er sich vor allem wegen seiner langen Karriere in der kommunistischen Partei (KPdSU) ein. 1956 kam er an das renommierte Gorki-Institut für Literatur in Moskau, wo seine typische Karriere als sowjetischer Schriftsteller begann. Es war das Jahr, in dem sein Vater posthum rehabilitiert wurde. Der Parteifunktionär war im Zuge von Stalins Säuberungen 1937 erschossen worden.
Aitmatow arbeitete als Journalist unter anderem für die "Prawda", war Funktionär im Schriftstellerverband, später auch Abgeordneter im Obersten Sowjet. Er erhielt Staatspreise der UdSSR und den Lenin- Preis für Literatur und Kunst - Beweise, dass er sich mit den Behörden nicht überwarf. Aitmatows politisches Leben erreichte seinen Höhepunkt, als ihn Michail Gorbatschow 1990 als Fachmann für Kultur in seinen Präsidialrat berief. Noch im selben Jahr wurde Aitmatow sowjetischer Botschafter in Luxemburg, bis ihn Präsident Boris Jelzin abzog. Bei den Wahlen 1995 in seiner Heimat erhielt Aitmatow ein Mandat für das kirgisische Parlament und diente seinem Land als Botschafter in Brüssel und Frankreich und als Delegierter bei der UNESCO.
Geschichte eines alten Leoparden
Tatsächlich hätten sich auch viele deutsche Leser eine schärfere Abrechnung mit der Vergangenheit von ihm gewünscht. Sein autobiografischer Band "Kindheit in Kirgisien" (1989) ließ nach Meinung der Kritik eine aufrichtige Selbstbefragung vermissen und galt vielen als der Endpunkt seines schriftstellerischen Werdegangs.
Doch zu alter Stärke fand der Vater von vier Kindern in seinem letzten Werk "Der Schneeleopard" zurück - auch dank seinem Freund und Übersetzer Friedrich Hitzer, der kurz nach Fertigstellung des Buches starb. Aitmatow erzählt hier die Geschichte des alten Leoparden Dschaa-Bars, der sein ruhiges Lebensende erwartet, aber von arabischen Prinzen mit Automatikwaffen gejagt wird. Es ist die literarische Aufarbeitung der Gegenwart in seiner entlegenen Heimat, die nach den weltweiten Terroranschlägen auch in den Strudel von religiösem Extremismus, Gewalt und Großmachtpolitik geraten ist.
Von Ulf Mauder, dpa
Quelle: ntv.de