"Bin ich gefickt, fick ich dich" Koks und Sühne
14.04.2008, 00:00 UhrIhr Terrain ist die Stadt, ihr Fortbewegungsmittel ein Auto, auch wenn sie dazu immer erst ihren Kumpel, einen stolzen Autobesitzer, mobil machen müssen. Chiko, Tibet und Chauffeur Curly sind Deutsch-Türken, leben in Hamburg und träumen von Reichtum und Anerkennung. Doch zwischen Gewalt und Drogen gewinnen Verrat und Freundschaft eine ausweglose Eigendynamik und setzen eine Tragödie in Gang.
Drehbuchautor und Regisseur Özgür Yildirim, laut Produzent Fatih Akin der "talentierteste deutsche Jungregisseur", erzählt in "Chiko" die Geschichte vom Aufstieg und Fall eines cleveren Kleinkriminellen mit Herz und Migrationshintergrund. Mal brutal, mal liebevoll, bleibt der Film dabei vor allem nah am Leben: "Bist du mein Bruder, Mann?" - "Eh, dein Bruder ham die abgeschoben", so klingt Humor in Chikos Welt.
Respekt verschaffen
Der Held der Tragödie, den Denis Moschitto in allen Lebenslagen überzeugend verkörpert, will Respekt, Geld und Macht. Sein engster Freund Tibet und dessen Mutter sind seine Familie. Die deutsche Ex-Freundin und die gemeinsame Tochter kümmern ihn dagegen eher weniger.
Kiezkönig zu werden, ist das neue Ziel - und der Weg dorthin scheint klar: "Wenn du keinen Respekt zeigst, dann denken die anderen am Ende, du hättest den Respekt erfunden." In der Umsetzung heißt das, den Kopf eines Typen ins heruntergekurbelte Autofenster einzuklemmen und langsam Gas zu geben. Derart in der Klemme soll der Kerl nie mehr vergessen, was er auf dem nackten Unterarm seines Peinigers gelesen hat: "Chiko" ist da eintätowiert. Wer jetzt das Sagen hat, sollte klar sein.
In anderen Fällen verschafft man sich Respekt, indem man den harmlosen Grassdealer Scholle in seiner Wohnung besucht. Dumm nur, dass Tibet sich nicht im Griff hat und immer gleich draufhauen muss. So endet der gutgelaunte, naive Scholle mit blutiger Kopfwunde unter seiner umgestürzten Schrankwand. Chiko wäre gerne weniger plump vorgegangen.
Tibet ist offensichtlich der unberechenbare Stressfaktor in einem ansonsten klaren Plan. Und er wird dem Helden die Aufstiegstour auf der sozialen, wenn auch kriminellen, Leiter vermasseln.
Cool bleiben
Der Angriff auf Scholle ruft die wahre Respektsperson im Kiez auf den Plan, den Drogenbaron Brownie. Der ist offiziell hauptberuflicher Musikproduzent, wohnt mit Frau und Kind in einem edlen Einfamilienhaus und wird von Moritz Bleibtreu ebenso sympathisch wie gnadenlos dargestellt. Chiko wird zu Brownie zitiert, lässt sich von dessen Schlägern aber nicht einschüchtern - im Gegenteil. Chiko trinkt sein Nobelbar-Bier aus der Flasche - "so kann ich besser draufhauen, wenns Stress gibt" und beeindruckt Brownie so nachhaltig, dass er ihm als Kiezdealer eine Chance gibt. Tibet und Curly machen mit, sind allerdings wenig begeistert vom neuen Auftraggeber.
Kein Wunder, denn Brownie ist keiner von ihnen. Im Gegensatz zu den Jungs verschafft er sich auf subtile Weise Respekt. Statt mit der Brechstange, geht er offen und mit gewinnendem Lächeln auf die Menschen zu. Doch hinter der Fassade kalkuliert der Geschäftsmann. Wird er enttäuscht, ist Schluss mit lustig - "Bin ich gefickt, fick ich dich", so wird er Chiko später sein Erfolgsrezept erklären.
Aufsteigen und oben bleiben
Ex-Junky Tibet ist zu labil, um Brownies schmutzige Geschäfte sauber zu erledigen. Aus gutgemeinten, persönlichen Gründen betrügt er Brownie, der zwar harmlos und locker wirkt, aber eiskalt bestraft. Tibet endet mit einem Nagel im Fuß. Chiko sinnt brüderlich auf Rache, scheitert jedoch an der entwaffnenden, charmanten Unschuld und Feierlaune, die Moritz Bleibtreu als Brownie an den Tag legt. So bringt es Held Chiko letztendlich nicht fertig, die lukrative Zusammenarbeit und Brownies Vertrauen mit einem Schuss zu begraben.
Stattdessen wählt er ein neues, erfolgreiches Leben auf großem Fuß im dicken Mercedes - zwar ohne Tibet und dessen Mutter, dafür aber mit Brownie, dessen Geschäftspartnern und mit Meryem, der Prostituierten von nebenan. Die flotte, unabhängige Türkin arbeitet ebenfalls für Brownie und ist genauso wenig auf den Mund gefallen wie ihre Darstellerin Reyhan Sahin alias "Porno"-Rapperin Lady Bitch Ray im richtigen Leben. Bevor die Realität den tragischen Helden einholt, flüchtet er sich mit Meryem in ein luxuriöses Liebesnest, ein Zuhause auf Zeit, das den wohl krassesten Gegensatz zur Küche von Tibets türkischer Mutter bildet.
Umso tiefer stürzen
Wie in jeder Tragödie ereilt Chiko die grausame Einsicht auf der Spitze des Erfolgs, wie in jeder Tragödie hat man es kommen sehen. "One way" heißt es an der Wand in Tibets Zimmer und ebenso zielstrebig, wenn auch ungewollt, stolpern die Freunde schließlich nur noch in eine Richtung, hinab in den Abgrund.
Man hätte dem Helden mehr Glück gewünscht, denn Chiko ist trotz allem ein sympathischer Gangster - auch, wenn er den Geburtstag seiner kleinen Tochter vergisst und ihre hübsche Mutter allein erziehen lässt, auch, wenn sein Lebenswandel jedem Integrationsbeauftragten Kummerfalten ins Gesicht treiben würde.
Noch einmal erzählen
Filmemacher Yildirim zeigt mit seinem Spielfilmdebüt nichts Neues. Wie in jeder Tragödie, ist der Stoff längst bekannt. Über kriminelle Karrieren mit Migrationshintergrund, über so genannte Parallelgesellschaften wurde und wird in regelmäßigen Abständen heiß politisch und öffentlich debattiert, ohne dass sich Lösungen abzeichnen. Einen Ausweg kann und will auch der Film nicht bieten. Fast schicksalhaft beschreitet Chiko den falschen Weg. So riskiert der Regisseur, bestehende Vorurteile zu bestätigen.
Andererseits lässt selbst der immer gleiche Stoff Menschen aufhorchen, wenn er einmal anders und wieder frisch erzählt wird. Der Film könnte einen Nerv bei denjenigen treffen, die sonst nie mitdiskutieren, weil sie wie Chiko stets davon träumen, reich und respektiert zu werden. Sie seien vor Einbahnstraßen gewarnt, denn wie jede ordentliche Tragödie endet "Chiko" mit Jammer und Schauder. Die zweifelhafte, streckenweise freundschaftliche Zusammenarbeit zwischen einem ambitionierten Deutsch-Türken und einem deutschen Mafiosi scheitert fatal - nur an gegenseitigem Respekt hat es ihnen nicht gemangelt.
Quelle: ntv.de