Die Welt der kleinen Leute Mike Leigh wird 65
14.02.2008, 15:35 UhrZwei Frauen sitzen in einem Caf. Schweigen, starren in die Leere. Sie sind Mutter und Tochter, das wissen sie aber erst seit kurzem. Zwei Tassen Tee stehen unberührt vor ihnen. Die Kamera ruhig, bewegungslos. Keine übertriebene Dramatik, keine aufwendige Technik. In Mike Leighs Filmen sprechen die Figuren für sich alleine - und saugen den Zuschauer mit in den menschlichen Abgrund aus Trauer, Frust und Einsamkeit.
In meist stillen und langsamen Filmen wie in "Lügen und Geheimnisse" schildert der britische Theater- und Filmregisseur den - oft trostlosen - Alltag der kleinen Leute. Am 20. Februar wird Leigh 65 Jahre alt. Kurz vor seinem Geburtstag darf er mit seinem neuesten Film "Happy-Go-Lucky" auf eine Auszeichnung bei der Berlinale hoffen.
Neben Regisseuren wie Ken Loach oder Stephen Frears ist Leigh einer der großen Vertreter der Autorenfilmbewegung "New British Cinema"; im Vordergrund steht dabei die soziale Realität der Menschen der englischen Arbeiter- oder der einfachen Mittelklasse. "Ich habe mich der Aufgabe verschrieben, außergewöhnliche Filme über das gewöhnliche Leben zu machen", beschrieb es Leigh einst. "Jeder meiner Filme dreht sich um die Frage, wie sich ein Individuum in der Gesellschaft verhält." Mit dem Glitzer und Glamour in Hollywood konnte der Brite nie viel anfangen. "Ich drehe Filme über die wahre Welt, wie sie ist", sagte er. "Wenn ich zwischen Hollywood oder Nägeln in meinen Augen wählen müsste, würde ich mich für die Nägel entscheiden."
Einen Oscar hätte er für sein Sozialdrama "Lügen und Geheimnisse" dennoch gerne gewonnen, jedoch ging er 1997 für den Film über die Suche eines Adoptionskindes nach seiner Mutter nach zwei Nominierungen leer aus. Auch für das viel gelobte Abtreibungsdrama "Vera Drake" (2004) und für den Film "Auf den Kopf gestellt" (1999) erfüllten sich seine Oscar-Hoffnungen nicht. Dafür konnte Leigh sich 1996 mit "Lügen und Geheimnisse" die "Goldene Palme" in Cannes und für "Vera Drake" 2004 den "Goldenen Löwen" in Venedig sichern. Gewinnt er mit "Happy-Go-Lucky" in Berlin den "Goldenen Bären", wäre er der einzige lebende Regisseur, der alle drei großen europäischen Filmpreise hält.
Leighs Vorliebe für das Leben der Arbeiterklasse lässt sich auch aus seiner Herkunft ableiten. Er wurde 1943 in der Arbeitergegend Salford westlich von Manchester als Sohn einer jüdischen Familie geboren. Die Eltern waren linke Zionisten, seine Großeltern kamen um die Jahrhundertwende aus Osteuropa nach Großbritannien.
Leigh begann seine künstlerische Laufbahn 1960 an der Royal Academy of Dramatic Arts, der angesehensten Theaterschule Englands. Er schrieb und inszenierte parallel zu seiner Filmkarriere 22 Theaterstücke, darunter sein wohl berühmtestes, das immer noch viel gespielte "Abigails Party" (1977). Jedoch verhalf ihm erst 1993 "Nackt", ein Film über einen einsamen Antihelden, zum internationalen Durchbruch. Im selben Jahr war auch in Deutschland zum ersten Mal eine Werkschau von Leigh bei den Hofer Filmtagen zu sehen.
Auch heute gehen Leigh, der in London lebt, die Ideen für seine Filme nicht aus. Die Inspiration findet er im schnöden Alltag: "Ich lebe immer noch in dieser Welt und sie ist mir immer noch wichtig. Ich fahre jeden Tag mit der U-Bahn und das ist eine paradiesische Fundgrube für mögliche Filme."
Von Annette Reuther, dpa
Quelle: ntv.de