"Die Nachmittagsvorstellung" Absurder Alltag
02.09.2012, 11:36 Uhr
Tel Aviv in den Gründertagen: In dieser und in heutigen Zeiten siedelt Jehoschua Kenaz seine Geschichten an.
(Foto: ASSOCIATED PRESS)
Eine Holocaust-Überlebende, der keiner zuhört. Ein Unhold im Orangenhain. Ein paar Kollegen, eine Großmutter im Rollstuhl, ein Junge und ein narkoleptischer Polizist, die sich gemeinsam einen japanischen Porno anschauen wollen. Skurril und absurd, aber vielleicht gerade darin alltäglich sind die Kurzgeschichten von Jehoschua Kenaz.
Klara, sauber, hübsch, klug, kommt bei ihren Verwandten unter. Alles ist gut, bis die Familie merkt, warum sie aus dem Haus der Pionierinnen hinausgeworfen wurde: Klara kann nicht aufhören, von dem wilden Fleisch zu reden, das bei ihr überall auf und im Körper wachse – wildes, fremdes Fleisch. Das Fleisch der Deutschen, die ihre Folterknechte im Lager waren.
Doch diese Geschichte will niemand hören. Sie müsse einfach vergessen und israelischer werden, fordert die überforderte Familie. Im jungen Staat Israel der 1950er Jahre ist kein Platz und keine Zeit mehr für solche Geschichten. Doch Klara kann nicht aufhören und ruiniert damit schließlich einen lange und mühevoll vorbereiteten Musik-Kulturabend der Frau ihres Cousins. Wird die unverhoffte Zuneigung eines eigenbrötlerischen ehemaligen Lehrers ihre Zwangsvorstellungen heilen?
Der Leser erfährt es nicht. Auch nicht was aus dem Unhold wird, der Kinder in Orangenhainen erschreckt, dem plötzlich aufgetauchten Milchbruder oder dem Scheidungskind unserer Tage, das sich nach dem Treffen mit seinem Vater erbrechen muss. "Die Nachmittagsvorstellung" versammelt neun Geschichten, in denen der israelische Autor Jehoschua Kenaz in kleine Universen eintaucht.
Einige der Erzählungen sind lose verbunden, einige hören unmittelbar auf, andere wiederum steuern in skurriler Weise auf einen absurden Höhepunkt zu, wie die Titelerzählung von der privaten Filmvorführung eines Pornostreifens in der sich Kollegen, die Schwiegermutter, Polizisten und ein minderjähriges Kind in einem abgedunkelten Raum wiederfinden, ohne jemals über den Vorspann hinauszukommen - stattdessen nimmt die Geschichte mit einem tödlichen Autounfall ein unerwartetes Ende.
Der 1937 als Jehoschua Glass in Israel geborene Autor verlässt sich bei seinen Erzählungen auf die Skurrilität des ganz normalen Lebens. "Alle Geschichten basieren auf einer realen Begebenheit. Ich musste sie nur weiterentwickeln", sagt er über sein Buch. In Israel zählt Kenaz, der in Jerusalem und Paris studierte, wie Amos Oz oder David Grossman zu den wichtigsten zeitgenössischen Autoren. Hierzulande ist er trotz einiger bereits auf Deutsch übersetzter Bücher noch weitgehend unbekannt.
Wer Israel aus eigener Erfahrung oder Erzählungen kennt, der wird in den Kurzgeschichten vieles wiederfinden – schon lange vergessene Redewendungen aus der Zeit der Staatsgründung, der kleine alltägliche Aberglauben und das kollektive historische Gedächtnis. Alle anderen können mit Hilfe von Kenaz neue Facetten des Landes abseits des Nahostkonflikts entdecken. Schnörkellos, ironisch, aber nicht ohne Poesie.
Quelle: ntv.de