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Terror mal "very british" Die "72 Jungfrauen" des Boris Johnson

Londons Bürgermeister Boris Johnson: Kultpolitiker und Bestseller-Autor.

Londons Bürgermeister Boris Johnson: Kultpolitiker und Bestseller-Autor.

(Foto: REUTERS)

Der US-Präsident ist auf Staatsbesuch in Großbritannien und soll in der Westminster Hall eine Rede halten, die weltweit übertragen wird. Ein perfekter Zeitpunkt für einen Terroranschlag, denken sich vier "Islamofaschisten" und freuen sich auf die 72 Jungfrauen im Paradies, die als Belohnung winken. Aber dann kommt alles anders.

7.52 Uhr. In einem Haus irgendwo in London erwacht Roger Barlow aus einem unruhigen und zu kurzen Schlaf. Blinzelnd erkennt er, dass eine Waffe auf ihn gerichtet ist. Sein Sohn hält sie zielsicher in den Händen und nimmt ihn ins Visier. Er hat bereits zuvor versprochen, seinen Vater umzubringen, wie sich Barlow erinnert. Sein Sohn ist vier Jahre alt und hat bereits einen ausgeprägten Ödipus-Komplex. Aber Barlow hat an diesem Tag andere Sorgen. Er befürchtet, dass es der letzte Tag seiner Karriere ist. Er ist Politiker. Abgeordneter im Britischen Unterhaus - und er hat etwas zu verbergen.

Er schwingt sich wenig später, nach einem verlorenen Machtkampf mit seinem ödipalen Nachwuchs, auf sein Rad und fährt in sein Büro. Unterwegs wird er Zeuge einer Auseinandersetzung auf einem Parkplatz. Eine "klassische Szene unserer modernen lebendigen multikulturellen Gesellschaft", ein Streit zwischen einer "Gruppe Asylanten und einem nigerianischen Parkwächter". "Arme Schweine", denkt Barlow. Wieviele Windschutzscheiben sie wohl für das Bußgeld von 200 Pfund putzen müssen? Es ist 8.37 Uhr.

Kurz darauf hat Barlow die Szene bereits vergessen. Er muss in sein Büro. Ein schwieriges Unterfangen an diesem Tag, denn "POTUS" hat sich für eine Rede im Parlament angekündigt. Der mächtigste Mann der Welt ist bereits in London und mit seiner Wagenkolonne auf dem Weg nach Westminster. Dahin will auch Barlow, doch ohne den "P"-Schein wird ihm der Zutritt zu seiner Arbeitsstelle verwehrt. Er mustert die Demonstranten, die gegen den bald eintreffenden US-Präsidenten lautstark mobil machen. Nie fühlte sich Barlow ihnen näher. Brüder und Schwestern im Geiste. Barlow ruft seine Assistentin Cameron an. Blond, jung, sexy, US-Amerikanerin durch und durch. Sie eilt leichtfüßig herbei, mustert die Demonstranten abschätzig, dann ihren Chef, reicht ihm den Passierschein und gemeinsam lassen sie die diversen Sicherheitsvorkehrungen links liegen: Panzersperren, Metallschranken, bis zu den Zähnen bewaffnete Sicherheitskräfte, Scharfschützen auf dem Dach der Westminster Hall. Im Augenwinkel nimmt Barlow plötzlich einen Krankenwagen wahr. Auf dem Parkplatz. Es ist kurz nach 9.30 Uhr.

Ein Neger, kein Dschinn und "Dad-Flashs"

Im Krankenwagen sitzen die "Asylanten" Jones, Haroun, Habib und Dean. Sie haben den nigerianischen Parkwächter kurz zuvor zum Schweigen gebracht, denn er gefährdete ihre Mission. Die vier sind Terroristen. Ihr Anführer Jones ist den britischen und US-amerikanischen Sicherheitsbehörden besser bekannt als "die Bombe". Haroun und Habib sind strenggläubige Moslems und sehnen sich bereits nach der Belohnung ihres Selbstmordanschlags: 72 Huris im Paradies, "Jungfrauen, deren Keuschheit weder von Mensch noch Dschinn beschmutzt" wurden. Dean dagegen ist Brite. Er wurde von Pflegeeltern aufgezogen, hatte eine glückliche Kindheit, bis ein Nachbarschaftsstreit sein Leben von Grund auf veränderte. Kurz gesagt: Das Nachbarhaus ging in Flammen auf, Deans Pflegevater beschimpfte ihn als "Neger" und nach unzähligen Sozialstunden sorgte noch eine unglückliche Liebe dafür, dass Dean nun zum Märtyrer werden will. 9.44 Uhr. Die Uhr tickt.

"72 Jungfrauen" ist im Verlag Haffmans & Tolkemitt erschienen.

"72 Jungfrauen" ist im Verlag Haffmans & Tolkemitt erschienen.

(Foto: Haffmans & Tolkemitt)

Jason Pickel sitzt auf dem Dach der Westminster Hall, sein M24-Scharfschützengewehr, das Kugeln mit einer Geschwindigkeit von 834 Metern pro Sekunde abfeuern kann, im Anschlag. Er beobachtet die Szenerie weit unter sich: die Anti-USA-Demonstration, die Panzersperren. Er schaut durch sein Visier, sieht einen langsam fahrenden Krankenwagen, diskutierende Polizisten. Dann beginnt er, über sein bisheriges Leben zu sinnieren. Er hat wieder einmal einen "Dad-Flash", ein Flashback an einen Einsatz in Bagdad, der für mehrere irakische Zivilisten tödlich endete; der für Pickels Ehe das Aus bedeutete und der ihn nun zur unberechenbaren hochgefährlichen Waffe macht. Schweiß läuft Pickel über die Stirn, als er über sich einen patrouillierenden Black Hawk hört. Er kehrt in die Realität zurück, legt mit seinem M24 auf die ameisengroßen Menschen unter ihm an … und die Glocken beginnen zu läuten.

Es ist 10.00 Uhr. "POTUS" beginnt seine Rede vor den britischen Abgeordneten. Barlow nimmt leise im Saal Platz. Cameron ist bereits da. Auch der holländische Botschafter, dem noch die Reste eines Straußeneis von den Haaren tropfen, das er den wurffreudigen Demonstranten vor dem Gebäude zu verdanken hat - und auch der französische Botschafter mit seiner arabischen Freundin lauscht den Worten des US-Präsidenten: "Meine Lords, Ladys & Gentlemen …", beginnt POTUS. Er holt weit aus, um sein kritisches Publikum verbal auf seine Seite zu ziehen. Nicht nur einmal wird Winston Churchill zitiert und auf das "historisch gewachsene Band zwischen Großbritannien und den USA" verwiesen. Komisch nur, dass sich ein arabisches Fernsehteam gerade jetzt den Weg in den Saal und zum Rednerpult bahnt, denkt "POTUS" und fährt mit seinem Geschwafel fort. Dann steht das vierköpfige TV-Team plötzlich neben dem US-Präsidenten. Es sind Jones, Haroun, Habib und Dean. Barlow hat die vier erkannt. Zu spät … Jones legt "POTUS" Handschellen an und greift zum Mikro. Es ist 10.24 Uhr … der große Knall steht bevor. Aber vorher muss noch einiges ins rechte Licht gerückt werden.

Terror-Satire "made in Britain"

"72 Jungfrauen" von Boris Johnson endet erst rund eine Stunde später. Bis dahin lässt der amtierende Bürgermeister von London, der als Engländer mit türkischen und deutschen Vorfahren in New York geboren wurde, seinen Terror-Gespinsten rund um "Islamofaschisten" freien Lauf. Ein Terroranschlag in London als Thema eines politischen Buches? Gerade jetzt vor den anstehenden Olympischen Sommerspielen in der englischen Hauptstadt? Ganz schön makaber. Aber "72 Jungfrauen" erschien bereits 2005 im englischen Original. Damals war Johnson "nur" Abgeordneter, und der "POTUS" kam noch aus dem schießwütigen Texas. Abu Ghraib schwirrte noch in den Köpfen der Öffentlichkeit herum. Ganz schön gewagt, trifft es also eher.

Und wie es sich für ein englisches Werk gehört, ist das Buch vollgepackt mit schwarzem Humor, fast schon überfrachtet. Satire "made in Britain" - wie die Terror-Komödie "Four Lions". Vollkommen politisch unkorrekt. Und das ist gut so! Die Charaktere, auf denen Johnsons verschiedene Erzählstränge fußen, sind zum Teil so hanebüchen, dass man als Leser nicht umhin kann, seine eigene Fantasie spielen zu lassen. Das gilt sowohl für die Hauptpersonen des Buches wie den Abgeordneten Barlow, den britischen Quoten-Terroristen Dean oder POTUS, als auch für die zunächst unscheinbaren Nebenpersonen wie den Scharfschützen Pickel, den nigerianischen Parkwächter oder auch eben den holländischen Botschafter. Der bekommt nicht nur ein Straußenei ab, ihm wird dazu noch ein Ohr abgeschossen und ihm wird als erste Geisel auch mit dem Tod gedroht. Es gibt zwei Polizisten, die einen Koran in dem Terroristen-Krankenwagen sehen und statt hellhörig zu werden, lieber in aller Ruhe darüber diskutieren, ob das jetzt Vorschrift ist, von wegen "alle Religionen müssen gleichbehandelt werden". Muss also jeder Krankenwagen quasi für die letzte Ölung nicht nur die Bibel, sondern auch den Koran und die Bhagavad Gita für Hindus an Bord haben? "Die Welt hat sich verändert, Partner", so die lakonische Schlussfolgerung. Lacher sind da programmiert, und halten lange an: Wann sonst hat man Terroristen auf ihrer mörderischen Mission am Rande eines Nervenzusammenbruchs erlebt - wegen eines unnachgiebigen Navigationssystems? "Wenn möglich, bitte wenden …"

Johnson spart in seinem Buch aber auch nicht mit Kritik: die BBC, das britisch-amerikanische Verhältnis, Großbritanniens politisches System samt seiner überholten Traditionen, die USA und ihre pseudodemokratischen Werte, die Medien, ja selbst das britische Gesundheitssystem bekommen ihr Fett weg, gekonnt verpackt in skurrile Wortwechsel, bei denen der Leser denkt: Was hat der Johnson dabei wohl geraucht?

Ganz nebenbei erfährt der Leser einiges über die Geschichte Großbritanniens, die Erfindung des Tennissports, den Bau der Westminster Hall, warum man US-amerikanische Cocktail-Würstchen besser nicht essen sollte und auch etwas über das gestörte britische Verhältnis zum Käse, zu Fernsehköchen und zum Reality-TV. Dass einer der Terroristen auf dem Klo beim Wasserlassen in die Luft fliegt, ist da fast schon geschenkt.

Das alles macht "72 Jungfrauen" (Verlag Haffmans & Tolkemitt) zu einem kurzweiligen Pageturner, perfekt für den anstehenden Sommerurlaub, unabhängig vom Wetter. Es bleibt zu hoffen, dass Johnson neben seinem Bürgermeisterjob noch genug Zeit für weitere Bücher haben wird!

Quelle: ntv.de

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