Max Frisch zum 100. Geburtstag "Ein Autor ohne Sicherheitsseil"
15.05.2011, 09:28 UhrMax Frisch ist auch 20 Jahre nach seinem Tod einer der meistgelesenen deutschsprachigen Autoren. Der große "Identitätssucher" war vor allem ein radikaler Selbstzweifler, stellt Julian Schütt fest, der für seine neue Frisch-Biographie bisher unbekannte Dokumente und Aufzeichnungen gelesen hat. Das macht ihn menschlich und radikal modern.
n-tv.de: Ihre Max-Frisch-Biografie hört da auf, wo Frischs Leben für den Leser erst so richtig beginnt, mit dem ersten erfolgreichen Roman "Stiller". Was war an dem noch unberühmten Max Frisch so spannend für Sie?
Julian Schütt: Max Frisch war ein anfangssüchtiger Autor. Er hat immer wieder Anfänge gesucht, immer wieder etwas neu begonnen. Wenn er das Gefühl hatte, etwas ist eingespurt, hat er einen Schnitt gemacht und sich wieder für einen Neuanfang entschieden. Das gab ihm das Gefühl des Lebendigseins. Deshalb habe ich gedacht, es könnte spannend sein, die Anfänge von Max Frisch zu entdecken.
Wonach haben Sie gesucht?
Frischs Anfänge sind besonders spannend, weil sie so eng an die Zeitgeschichte gekoppelt sind. Frisch hat sich in den 1930er Jahren als junger Autor versucht, da stellt sich die Frage, wie abhängig ist er, wie frei kann er sich bewegen? Wie kann man sich als politischer Autor betätigen? Das waren die Fragen, die mich interessiert haben. Beim jungen Max Frisch ist natürlich auch schon ganz viel angelegt, was dann später in den großen Texten vielleicht reifer formuliert wird. Andererseits ist eben ein wenig von der Spontaneität des jungen Frisch verloren gegangen.
Sie galten schon vor dem Buch als Max Frisch-Kenner, haben aber bisher unbekanntes Material gesichtet. Was war Ihnen neu an dem Frisch, den Sie da zu sehen bekamen?
Ich hatte vorher das Gefühl, Frisch sei ein sich gesicherter, erfolgreicher Mensch gewesen. Aber im Laufe der Recherche habe ich gerade bei den persönlichen Briefen und Dokumenten immer mehr gemerkt, wie dieser Mensch so ohne jeden eigenen Verlass, ganz ungesichert, lebt. Selbst später, als er schon ein berühmter Autor ist, war er immer wieder wie vor eine Wand gestellt, wusste nicht weiter, war depressiv und stellte alles in Frage. Er hat ja auch Texte vernichtet, Beziehungen abgebrochen, seine Familie verlassen. Dieser Frisch, der so ohne Sicherheitsseil durchs Leben ging, der hat mich zunehmend fasziniert. Da kam ein Mensch zum Vorschein wie viele, der das Durchschnittliche in sich spürt.
Schaut man auf Frischs Herkunft, fühlt sich das Kind Max der Mutter sehr nah und dem Vater eher fremd. Ist das eine Erklärung für seine späteren Figuren? Er zeichnet ja eher egozentrische und isolierte Männer und abziehbildhafte Frauen.
Ja, die Männer scheitern oft bei ihm, wie er auch das Gefühl hatte, sein Vater sei gescheitert. Die Architektenkarriere des Vaters hat er eigentlich nie zur Kenntnis genommen. Trotz seines scharfen sozialen Blicks hat er einfach die Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf das Leben seines Vaters kaum wahrgenommen. Bei den Frauen ist es ähnlich. Er lebte ja, bis er 30 war, mit der Mutter zusammen. Und seine Frauenfiguren haben in der Tat etwas Stilisiertes. Es gibt immer eine Frauenfigur, die er in den Himmel hebt. Für normale Frauen ist kaum Platz. Oft gibt es allerdings eine weibliche Nebenfigur, die differenzierter, menschlicher und widersprüchlicher gezeichnet ist. Das darf man nicht nur auf seine Eltern reduzieren, aber es spielt sicher eine Rolle.
Frisch bestand auf der Nichtfestlegung für sich selbst. War er vielleicht doch schon in der Jugend festgelegter, als er es sein wollte?
Natürlich und deshalb hat er sich auch so sehr dagegen gewehrt. Zum Beispiel ist von den allerersten Artikeln an sein Ich präsent. Er schreibt davon ganz selbstverständlich, und das ist es überhaupt nicht im Journalismus der 1930er Jahre. Der Journalist soll über ein Ereignis berichten, und Frisch schreibt immer über sich und sein Erleben. Er bringt seine Person oder eine stilisierte Selbstprojektion hinein. Er kann nicht anders, er muss sich aussetzen. Das ergibt nicht immer einen autobiographischen Text, weil er das auch verfremdet. Aber der Ausgangspunkt bleibt das Ich, wie sehr er das auch sprengen will.
Ihm ist deshalb oft eitle Selbstbespiegelung vorgeworfen worden. Wie sehen Sie diese Ich-Bezogenheit?
Das Eitle ist sicher bei jedem erfolgreichen Schriftsteller präsent. Aber ich sehe bei Frisch mehr die aufrichtige Selbstbefragung. Er hat immer wieder an Texten gearbeitet, an denen er sein Scheitern als existenziell angesehen hat. Er hat immer Selbstmordphantasien gehabt, hat radikal an sich gezweifelt. Und er hat immer auf Leser gehofft, die seine Texte dann auch mit der gleichen Intensität lesen. Er wollte den Leser oder die Leserin unmittelbar auf sich selbst zurückwerfen, damit sie sich die Fragen, die er sich stellt, auch selbst stellen. Frisch hat immer die Auseinandersetzung gesucht und ist damit auch ein sehr moderner Autor, weil er sehr ehrlich und selbstzweiflerisch mit sich zu Werke geht. Das ist viel mehr als Eitelkeit.
Nach seinen journalistischen Anfängen wird Frisch Architekt, um sich dann doch für den Schriftstellerberuf zu entscheiden. Warum ist ihm die Entscheidung für die künstlerische Existenz so schwer gefallen?
Die Anfänge haben ihm einfach nicht genügt, er kam nicht mehr weiter, auch finanziell nicht. Die Honorare wurden in der Wirtschaftskrise immer geringer, davon konnte er nicht leben. Es gab zudem diese kollektivistischen Bestrebungen, vor allem im Nationalsozialismus. Man musste sich einordnen, das fiel Frisch mit seinem radikalen Ich schwer. Durch den Architekturberuf, der ja auch ein bisschen ein künstlerischer ist, hat er Machtstrukturen kennengelernt. Er war Arbeitgeber und Chef, er musste Auftraggeber und Geldgeber suchen, das war für ihn auch hilfreich. Viele architektonische waren auch politische Fragen, gerade im Städtebau. Er hat den Wiederaufbau etwa Warschaus beispielsweise sehr genau studiert.
Frisch ist seit 20 Jahren tot. Was sollte man noch von ihm lesen?
Er ist ja immer noch ein Schulbuchautor, ich glaube aber, dass man ihn persönlich entdecken muss. Ich empfehle sehr die Tagebücher, die gehen jetzt ein wenig unter. Man spricht viel vom "Homo Faber", von "Montauk" – das sind auch großartige Werke. Aber gerade dieses erste Tagebuch, wo es darum geht, die Nachkriegszeit mit all ihren Kränkungen und Verletzungen zu spiegeln, zeigt ganz viele existenzielle Fragen, mit denen sich Frisch spannend und lebendig auseinandersetzt. Das ist ein Text, der sehr in seiner Zeit ist und trotzdem bis in unsere Zeit ausstrahlen kann. Deshalb würde ich ein großes Plädoyer für das erste Tagebuch halten. Für mich ist auch "Der Mensch erscheint im Holozän" ein ganz großartiger Text. In dieser reduzierten und dadurch unglaublich modernen Form, erfindet sich Frisch als erfahrener Autor noch einmal neu. Die Angst vor dem Verlust des Gedächtnisses steht als ganz persönliche Geschichte im Mittelpunkt und führt allgemein zu der Frage: Wie gehen wir mit dem Altern, Sterben und Verlust um? Das betrifft jeden und jede von uns, dem Sog dieses Textes kann man sich nicht entziehen.
Mit Julian Schütt sprach Solveig Bach
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Quelle: ntv.de