Ort des Staunens, Ort des Schreckens Freiwild an der Odenwaldschule
10.08.2011, 16:12 Uhr
Die Schule hat die Aufarbeitung des Missbrauch lange vermieden und das Leid der Opfer damit verlängert.
(Foto: picture alliance / dpa)
Die Odenwaldschule sollte eine Umgebung sein, die "dem Aufwachsen bekommt", sagte ihr Leiter Gerold Becker. Dann baute er ein gnadenloses System des Missbrauchs auf. Tilman Jens war an der Schule. 40 Jahre später beschreibt er, wie aus dem Pädagogen ein Verbrecher wurde. Trotzdem sei "nicht alles furchtbar" gewesen.
Im September 1972 kommt Tilman Jens 17-jährig an die Odenwaldschule. Der Schulwechsel ist eine Befreiung für ihn. Hinter ihm liegen "acht Jahre der Erniedrigung" an einem baden-württembergischen Gymnasium mit der zuletzt unausweichlichen Aussicht, nun auch noch sitzen zu bleiben. Plötzlich lernt er Klassenzimmer als Orte des Staunens, Lernen als Abenteuer, Schule als angstfreien Raum kennen.
2011 klingt Jens' Beschreibung dieser ersten Zeit in seinem Buch "Freiwild. Die Odenwaldschule – Ein Lehrstück von Opfern und Tätern" geradezu zynisch. Die Odenwaldschule gilt vielen derzeit als Ort des Schreckens, an dem Kinder systematisch von Lehrern sexuell missbraucht und ausgebeutet wurden. Jens, der Autor und Journalist, sieht sich gezwungen, den Anfang seiner Lebensgeschichte umzuschreiben. Er habe versucht, "ein differenziertes Bild zu zeichnen", erzählt er im Gespräch mit n-tv.de. "Man macht es sich in der Debatte zu einfach, wenn man sagt: Es war alles furchtbar. Es war eben nicht alles furchtbar. Die Schule war, wie es Amelie Fried gesagt hat, Himmel und Hölle zugleich."
Unfassbar und unbegreiflich
Die Hölle wurde nur über viele Jahre nicht gesehen, eben weil sich die meisten Schüler der Odenwaldschule ernst genommen und geborgen fühlten. Manchmal sogar trotz des Missbrauchs. Die Zeichen gab es dennoch. "Der Mittelstufenlehrer Jürgen K. baute mit voller Unterstützung der Schule die beiden Duschräume zu einem gemeinsamen um. Aus der anderen Dusche wurde eine Sauna. Man konnte also gar nicht mehr getrennt duschen. Das ist noch kein Missbrauch, aber es ist die Vorstufe davon. Und der Musiklehrer Held hat an einer koedukativen Schule über 20 Jahre lang immer nur Knaben in seine Familie bekommen, das hat man ihm einfach so zugebilligt. Das ist für mich unbegreiflich."
Beinahe 40 Jahre danach ist auch für Jens manches unverständlich, was er während seiner eigenen Schulzeit kaum hinterfragt hat. "Wir waren froh, im Aufbruch zu sein, auch in sexuellen Dingen. Wir wussten, dass Gerold Becker mit seinen Knaben duscht. Aus heutiger Sicht ist es unfassbar, dass wir nicht zu anderen Lehrern gelaufen sind oder zur Schulaufsicht. Wir wollten auf der einen Seite die Welt verändern, lasen Beckett und Adorno, und auf der anderen Seite haben wir das nicht registriert."
Vieles lasse sich heute nicht mehr verstehen, nicht zuletzt, weil auch die Forschung zum Missbrauch und seinen Folgen inzwischen sehr viel weiter sei. " Es gab die Veröffentlichungen nicht, die die unzweifelhaften Spätfolgen des Missbrauchs beschreiben. Das hat es diesen Tätern erleichtert."
Alltäglicher Missbrauch
Umso wichtiger ist es Jens in seinem Buch, die verschiedenen Arten des Missbrauchs an der Odenwaldschule und ihre Auswirkungen weit ins Erwachsenenleben der Schüler hinein zu benennen. Die Recherchen und Gespräche mit ehemaligen Mitschülern und Lehrern seien zum Teil "verstörend" gewesen, so Jens. Beklemmend genau schildert er, wie ein Lehrer einer 13-jährigen Schülerin in den Schlüpfer gegriffen hat und wie sie noch als erwachsene Frau weinen muss, wenn sie davon erzählt.
Erschreckend alltäglich kommen die Übergriffe daher, während Ausflügen, am Abend im Zimmer der Schüler, geradezu verabredet beim gemeinsamen Abendessen, im Urlaub mit dem Lehrer. "Ich beschreibe so präzise ich kann, aber ich wollte mich nicht in Details des Missbrauchs ergehen. Ich wollte keinen Voyeurismus bedienen." Ekel, Scham und Abscheu sind bei ehemaligen Odenwaldschülern oft untrennbar mit dem Gefühl des unbeschwerten und umfassenden Lernens und Lebens verbunden. Man kann Jens nicht vorwerfen, dass er sich den Erinnerungen seiner Mitschüler nicht ausgeliefert hätte.
Jens berichtet insbesondere von drei Lehrern und ihren Missbrauchsstrategien. Da ist zum einen der langjährige Schulleiter Gerold Becker, der mit jedem Jahr, das er an der Schule verbrachte, mehr von seinen Skrupeln verlor und seine Pädagogen-Ideale so lange mit Füßen trat, bis nur noch ein Sexualverbrecher übrig blieb. Anders liegt der Fall beim Internatslehrer Wolfgang Held, der die ihm anvertrauten Jungen "sanftmütig, aber beharrlich abrichtete", bis sie ihm nicht nur selbst zu Diensten waren, sondern er sie auch noch in seinem Bekanntenkreis von Pädosexuellen weiter verteilen konnte. Und dann gab es noch Jürgen K., der, inzwischen hochbetagt, Unterdrückung und sexuelle Ausbeutung von Kindern noch immer für eine Errungenschaft der 68er hält, für Zeichen von Freiheit und Toleranz ohne jedes Unrechtsbewusstsein.
Falsche Erinnerungen
Allerdings hat Jens auch Fälle recherchiert, die mit abscheulichen Details durch die Presse gingen, sich aber bei genauerem Hinsehen kaum so ereignet haben dürften. "Vielleicht muss man auch über die Traumata sprechen, die manche Schülerinnen und Schüler mitgebracht wurden. Die Odenwaldschule hat immer Kinder aufgenommen, die vom Jugendamt kamen. Das waren zum Teil schwer traumatisierte, missbrauchte Kinder. Das macht es doppelt schlimm, dass sie wieder angegriffen wurden, aber es erschwert auch die genaue Aufklärung unglaublich. Und das muss man tun, man muss es genau aufklären."
Vor allem für die nachdenklichen Töne ist Jens angegriffen worden. Er sei nicht darauf gefasst gewesen, so heftig kritisiert zu werden. "Mein Eindruck ist, dass jedem, der versucht, ein differenziertes Bild zu zeichnen, Bagatellisierung vorgeworfen wird. Bei einigen, die auch oft viele Jahre Teil des Systems Odenwaldschule waren, scheint mir das auch ein Nichtfertigwerden mit der eigenen Rolle zu sein."
Trotz der eigenen Verbundenheit mit seiner alten Lehranstalt ist Jens der Meinung, an der Odenwaldschule sei "einfach zu lange gemauert" worden. "Die Schule hatte schon nach 1999 jede Chance zur Aufarbeitung und hat da kläglich versagt. Das rächt sich jetzt." Noch immer sei es schwierig, zu einer klaren Linie zu finden. "Darüber, dass es furchtbar war, sind sich alle einig, darüber, wie man es lösen kann, nicht." Vor allem darüber, welche Geste zur Entschädigung der Opfer angemessen sei, gingen die Meinungen weit auseinander. Jens hält auch einen Verkauf von Grundstücken der Schule für überdenkenswert, um Zahlungen an die Opfer zu leisten. Dagegen gebe es bei anderen "erhebliche Vorbehalte".
Attacke auf die Reformpädagogik
Nicht alles sei jedoch mit den konkreten Versäumnissen der Odenwaldschule zu erklären. Manch einer möchte die Gelegenheit ergreifen, meint Jens, um nun der gesamten Reformpädagogik den Todesstoß zu versetzen. Im Vergleich mit der Aufarbeitung des Missbrauchs in der katholischen Kirche werde dies klar. "Niemand würde sagen, der Katholizismus an sich ist identisch mit Missbrauch. Da ist man mit der Reformpädagogik sehr viel weniger zimperlich. Eine Pädagogik, die angesichts der aktuellen eher autoritären Erziehungsratgeber weniger en vogue erscheint, ist da offenbar leichter unter Generalverdacht zu stellen."
Jens verweist jedoch darauf, dass andere reformpädagogische Einrichtungen längst wegweisende Richtlinien zum Umgang mit sexuellem Missbrauch entwickelt haben. Als Beispiel nennt er die Ecole d'Humanité in der Schweiz. Sie wurde einst von den Gründern der Odenwaldschule Paul und Edith Geheeb ins Leben gerufen, nachdem sie vor den Nazis in die Schweiz flüchten mussten. Jens zitiert aus den Leitlinien zur Vermeidung sexueller Übergriffe der Schule. Lehrerinnen und Erzieher der Ecole müssen sich beispielweise fragen, inwieweit sie in der Beziehung zu Schülerinnen und Schülern möglicherweise eigene Bedürfnisse befriedigen und ihrer Rolle als Erwachsene gerecht werden. Der Kanon reicht bis hin zu Empfehlungen, keine Facebook-Freundschaften zu Schülern zu pflegen. Jens versteht dies als zeitgemäßen Umgang mit der Missbrauchsgefahr. "Die Ecole d'Humanité erkennt die Versuchung an und sagt trotzdem, das darf es nicht geben. Dafür kann man Handlungsanleitungen entwickeln, und das ist bestimmt besser als zu sagen: Du darfst gar nicht erst in Versuchung kommen."
Quelle: ntv.de