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Geister und Gesänge im hohen Norden Im Eis gefriert das Glück

Auf dem entlegenen Schärenarchipel sind die Winter hart und eisig.

Auf dem entlegenen Schärenarchipel sind die Winter hart und eisig.

(Foto: REUTERS)

Mit dem Postschiff kommen der neue Pfarrer und seine kleine Familie auf den Örar-Inseln an. Die Insulaner schließen das junge Paar bald ins Herz. Doch Anton, der seltsame, seherisch begabte Postbote, warnt immer wieder vor dem Eis und seinen Geistern.

Das Leben ist hart aber gerecht auf der kleinen Inselgruppe zwischen Finnland und Schweden, abseits der großen Schiffsrouten und auf kaum einer Karte verzeichnet. Das ganze Jahr über windumtost wächst nicht viel auf den kargen Wiesen und mehr als ein paar Kühe und Schafe hat kaum jemand. Im Sommer bringen Segler und Heringe etwas Geld. So kommt man über die Runden. Die Menschen hier leben ihre überschaubaren Leben, mit ein wenig Klatsch und etwas Streit, so manchem Schmerz und viel Hoffnung. Das musikalische Inselvolk liebt den sonntäglichen Gottesdienst, der nur aus Gesang bestehen könnte. Und wer würde schon den Zauber des zugefrorenen Meeres im Winter missen wollen?

"Eis" ist im Mare-Verlag erschienen und kostet 24 Euro.

"Eis" ist im Mare-Verlag erschienen und kostet 24 Euro.

Hierher kommt, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, die Pfarrersfamilie Kummel und ist sofort begeistert. Ein idyllischer Fleck Erde, ein eigenes Heim, ein eigener Kuhstall, eine eigene Gemeinde, so sollen die Kinder aufwachsen. Die Zeichen stehen auf Neuanfang, alles scheint gut zu werden. "Hier ist die Pforte des Himmels", sagt Petter Kummel in seiner ersten Predigt und öffnet damit die Herzen der Insulaner. Die zupackende, praktische Mona ist ebenfalls sehr nach ihrem Geschmack, und seit klar ist, dass der Pfarrer die Traditionen erst einmal klaglos übernimmt und außerdem wunderbar singen kann, nehmen sie auch ihn herzlich in ihre Mitte.

Neugierig aber vorsichtig nähert sich auch die Ärztin und Hebamme Irina Gyllen der Familie an. Sie, die auf geheimnisumwitterte Weise aus der Sowjetunion geflohen ist, musste lernen niemanden an sich heranzulassen. Doch Petter kann sie sich öffnen und erzählt von dem Schmerz, den sie Tag für Tag betäuben muss.

Die alten und die neuen Götter

Nichts trübt das Glück auf den Inseln, bis auf die beständigen, in Form von Geschichten vorgetragenen Warnungen des seltsamen Post-Antons. Er verweist Petter immer wieder auf eine alte, unsichtbare Macht, die auf dem Eis im Winter mehr zu sagen hat als sein christlicher Gott. Seine Ahnungen speisen sich aus den Botenfahrten zwischen den Inseln und der Zeit, die dabei gewonnenen Eindrücke zu überdenken.

Ulla-Lena Lundberg ist nicht umsonst eine der erfolgreichsten finnlandschwedischen Autoren. Im Erscheinungsjahr 2012 hat Lundberg mit "Eis" nicht nur den wichtigsten finnischen Literaturpreis gewonnen, sondern auch einen Bestseller gelandet. Schade, dass jetzt erst ein Werk von ihr auf Deutsch erscheint. Lundberg gelingt nämlich, was viele schon vor ihr versucht haben: dem ausländischen Leser verständlich zu machen, wie es sich anfühlt, Finnlandschwede zu sein. Bis heute ist sie nach eigener Aussage eine der letzten Finnlandschweden, die kein Finnisch können. Viele Angehörige der schwedischsprachigen Minderheit in Finnland mussten einsehen, dass sie im Zweiten Weltkrieg auf der falschen Seite gekämpft haben. Dafür wurden sie von der Sowjetunion zwar schon bestraft, fühlen aber, dass die Bedrohung durch das kommunistische Nachbarland nicht vorüber ist. Auf der anderen Seite verbinden ihre Sprache und Kultur sie auch mit dem neutralen, weniger zerstörten Schweden, wohin es viele junge Leute zieht.

Aber "Eis" ist kein politischer Roman und auch keine Gesellschaftsstudie, die Situation der Inseln wird zwischen den Zeilen transportiert und webt sich ganz natürlich in die Geschichte ein. Überhaupt ist der Roman von einer beeindruckenden Mühelosigkeit. Die Autorin entführt mit kühler, schnörkelloser Sprache in eine Welt, die zugleich mystisch-exotisch und vertraut ist. Ihre lebensechten, unperfekten Personen und die einzigartige Landschaft ziehen einen sofort in den Bann. Man fühlt mit den Kummels und hofft bis zuletzt, dass sie der im Klappentext angedeuteten Katastrophe entgehen.

Doch Lundberg weiß, wovon sie schreibt, bis in die letzte Konsequenz. Denn der Pfarrer, das war der Vater der 1947 geborenen Autorin. Bis heute ist sie auf den Inseln zu Hause, die sie für ihr Buch nur ein wenig umbenannt hat. Zutiefst vertraut mit dem einfachen Leben auf den Inseln, mit den kurzen Sommern, heftigen Herbststürmen und endlosen Wintern, zeichnet sie ein ganzes Lebenspanorama, in dem das Eis ebenso verbindet, wie endgültig trennt.

"Wer einmal die Veränderung in einer Landschaft gesehen hat, sobald ein Schiff ins Blickfeld kommt, wird sich nie mit der Behauptung einverstanden erklären können, dass ein einzelnes Menschenleben ohne Bedeutung sei." Mit diesem Satz beginnt Lundbergs Roman. Kein anderer Satz könnte wohl die Überzeugung der Autorin präziser beschreiben. Atmosphärische Landschaften, kluge Porträts der Inselbewohner, die Mystik des Nordens und ein überraschendes, sehr berührendes Ende: "Eis" ist ein Buch zum immer wieder Lesen.

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Quelle: ntv.de

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