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Musik für das 21. Jahrhundert Rock trifft Elektro

Sobald in einer Musiksparte ein gewisser Stillstand eingetreten ist, tauchen sie mit einiger Sicherheit auf, die ungenierten Vorkämpfer einer Neuinterpretation des Genres. Dann werden Grenzen gesprengt, Stile gemixt, wird gecrossovert, was das Zeug hält, werden zuvor als sakrosant angesehene Harmonievorstellungen gnadenlos überdreht und zuweilen auch der Lächerlichkeit preisgegeben. Neben frenetischem Applaus ernten diese Schrittmacher immer auch empörte Ablehnung. Im besten Fall erwächst aus einer derartigen Generalrevision jedoch ein üppiger Freiraum für weitere kreative Experimente, sodass das Weiterleben der Sparte aufs Erste gesichert ist.

Musikalische Desperados

Nun waren vor allem im Bereich der sich stets als Avantgarde begreifenden elektronischen Musik deutliche Erschöpfungszustände und Abnutzungserscheinungen nicht zu übersehen. Nach der Pionierphase in den 80ern hat die hemmungslose Kommerzialisierung in den 90ern der Szene einen veritablen Schlag in die kreative Magengrube versetzt, von dem diese sich bis zur Mitte des neuen Jahrhunderts nicht erholt hat. Das hat zwar für eine reichlich trostlose Zeit gesorgt, anderseits wurde dadurch aber auch die Tür für musikalische Desperados sperrangelweit geöffnet, denn jetzt war Chuzpe gefragt. Und was lag da näher, als die Stilelemente des guten alten Rock zu nehmen, und ordentlich durch den elektronischen Fleischwolf zu drehen?

Das zumindest scheint sich das französische DJ- und Produzentenduo Xavier de Rosnay und Gaspard Aug gedacht zu haben, als sie ihr Projekt Justice ins Leben riefen. Und diese Symbiose kommt auch nicht von ungefähr, denn als die beiden sich im umtriebigen Pariser Nachtleben kennen lernten, outete sich der eine als Disko- der andere als Trash-Metal-Fan. Angesichts des besagten musikalischen Vakuums wurde dann beschlossen, diese beiden Vorlieben kurzerhand zu kombinieren. Nachdem sie mit ihrer Remix-Version zum Song "Never Be Alone (We Are Your Friends)" der britischen Band Simian für erstes Aufsehen gesorgt hatten, und darauf hin vom Duft Punk Manager Pedro Winter unter die Fittiche genommen wurden, wartete man allseits gespannt auf ihr erstes Album.

Radikaler Disko-Punk

Dieses liegt nun unter dem kryptischen Titel "†" resp. "Cross Symbol" vor und ist in der Tat dazu angetan, die Welt der Mischpulte, Keyboards und Turntables in helle Aufregung zu versetzen. Am besten lässt sich diese musikalische Tour de Force wohl als eine Art Disko-Punk gepaart mit der Aggressivität und der Kompromisslosigkeit des Brachial-Metals bezeichnen. Radikalität ist jedenfalls Programm und keine, wirklich keine Übertreibung wird ausgelassen. Dabei versinkt das Ganze nicht notwendigerweise in einem Meer extremer Monotonie, sondern Abwechslung wird durchaus großgeschrieben.

Am Eingängigsten ist erwartungsgemäß die Singleauskoppelung "D.A.N.C.E." ausgefallen, die mit gefälligen Popmelodien, gesampelten Streichern und einem fröhlich-groovigen Knabenchor aufwartet. Demgegenüber stehen derweil krachig-knarzige Songs wie "Genesis" und "Let There Be Light", düstere Elektrorockgranaten wie "Waters of Nazareth", aber auch charmant-entspanntes, mit Synthies versetztes Liedgut wie bei "Valentine" – ein bunter Strauß unkonventioneller Ideen.

So unterschiedlich die Songs im Einzelnen auch sind, lässt sich gleichwohl ein Muster ausmachen und zwar in dem Versuch, durch bis an die Schmerzgrenze (und darüber hinaus) gehende Verzerrungen, beständige Breaks, permanente Rückkopplungen und dauerwiederholte Samples die gängigen Hörgewohnheiten zu strapazieren, das einzige Zugeständnis an den Zeitgeist besteht in leichten Reminiszenzen an die France-Elektro-Heroen von Daft Punk. Der Abbruch überkommener Soundgebäude wird jedoch nicht aus purem jugendlichen Übermut betrieben; er dient vielmehr dem uneingeschränkt konstruktiven Ansinnen, die Essenz des Rocks in der Form elektronischer Musik neu aufleben zu lassen. Ja, genauso könnte sie klingen, die Musik des 21. Jahrhunderts.

Daniel Müller

Justice "†. Cross Symbol" Warner Music, 13,99 Euro

Quelle: ntv.de

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