Vergebung als größte Tugend Wenn das Leben aus dem Takt gerät
04.09.2011, 09:26 UhrHenry Cage ist ein Gewinner - der erfolgreiche Unternehmer kann sich in einen sorgenlosen Ruhestand zurückziehen. Doch seine Seelenruhe hat Cage schon vor Jahren verloren, weil er seiner Ex-Frau einen Seitensprung nicht verzeihen konnte. Nun bekommt er die Chance zur Umkehr, und steuert direkt in die Katastrophe.
David Abbott war ein erfolgreicher britischer Werbeunternehmer, dann ging er in Rente und sagte etwas leichtfertig in seiner Abschiedsrede, vielleicht werde er einen Roman schreiben. Nun hat er mit 73 Jahren seinen ersten Roman auf den Markt gebracht. Acht Jahre hat er daran geschrieben, "146 Wörter die Woche".
Wer nun mit "Die späte Ernte des Henry Cage" ein altersmildes Werk erwartet, könnte kaum falscher liegen. Die ersten Seiten halten gleich einen Paukenschlag bereit, Cages kleiner Enkel kommt ums Leben. Der Achtjährige ist mit seinem Großvater auf einem Angelausflug und wird mit dessen Auto zu Tode geschleift, weil es ein Drogenabhängiger klaut. "Das Ganze war blitzschnell gegangen. Spontan sprang der junge Mann in den Wagen und erschrak, als er den Jungen sah. Er brüllte ihn an, er solle aussteigen, und als der Junge die Beifahrertür öffnete, rutschte der junge Mann rüber, schubste ihn hart und zog die Tür zu, während der Junge hinausfiel. Dann fuhr er los."
Hal ist tot und Cage fühlt sich schuldig daran. "Der junge Mann hatte die Schreie des Jungen auf dem Vorplatz nicht gehört – der alte Motor war laut. Er hatte nicht bemerkt, dass er den Jungen mit achtzig Stundenkilometern über die Straße geschleift hatte."
Vier Jahre zuvor ist Cage als Unternehmensberater in den Ruhestand gegangen, oder vielmehr gedrängt worden. Aber das erfährt man erst später. In der darauf folgenden Silvesternacht wird er brutal zusammengeschlagen. Wenig später kann er nicht länger in seinem Stammcafé frühstücken, weil ein Unbekannter ihn dort als Spanner unmöglich macht. Dann schickt der ihm auch noch obszöne Fotos und belagert sein Haus. "Es ist, als habe Gott seine Hand geöffnet und dich für eine Weile darauf tanzen lassen, um sie dann ganz fest zu schließen - so fest, dass du noch nicht mal schreien konntest." Cages Leben ist hinter der perfekten Fassade eine Katastrophe.
Abbott erzählt Cages Geschichte als eine des Versagens, weil der seiner Frau nach einem Seitensprung nicht vergeben konnte. Die Ehe wird geschieden, Nessa geht nach Amerika. Der gemeinsame Sohn Tom bricht daraufhin den Kontakt zu ihm ab. Erst mit jahrelanger Verspätung erfährt Cage überhaupt, dass er einen Enkel hat. Doch dann bittet ihn seine geschiedene Frau, sie in den USA zu besuchen. Sie hat Krebs und wird sterben. Darin liegt für Cage die Chance, in seinem Leben noch etwas besser zu machen.
Cage durchläuft einen schmerzhaften Läuterungsprozess, und als es gerade gut werden will, kommt die Katastrophe. Am Ende ist Cage darauf angewiesen, dass ihm verziehen wird. Abbott glaubt an die Fähigkeit zu vergeben als größte menschliche Tugend. Gnadenlos und klar erzählt er schnörkellos und präzise von einem Egozentriker, der durch Bitterkeit und Schmerz geht, weil er sich schon vor Jahren von seinen und den Gefühlen anderer abgeschnitten hat. Trotzdem ist das Buch keine Abrechnung, sondern ein zugleich bitterer wie mitfühlender Blick auf die flüchtigen Chancen des Lebens und unseren herz- und gedankenlosen Umgang damit. Ein geniales Buch.
Quelle: ntv.de