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"Revolutionen auf dem Rasen" Wie der Fußball laufen lernte

Auch wenn Jürgen Klopp bei der WM 2006 den Erklärbär spielen durfte: Die Taktiktafeln der Fernsehsender dienen mehr dem Effekt als der Analyse.

Auch wenn Jürgen Klopp bei der WM 2006 den Erklärbär spielen durfte: Die Taktiktafeln der Fernsehsender dienen mehr dem Effekt als der Analyse.

(Foto: picture-alliance/ dpa)

Doppel-Sechs, flache Vier, falsche Neun: Wer den modernen Fußball verstehen will, kommt ohne Taktikkenntnisse nicht weit. Jonathan Wilson gibt mit seinem furiosen Ritt durch die Fußballgeschichte Nachhilfe und bietet Einblick in seine unerschöpfliche Schatzkiste voller Anekdoten.

Mit Libero Matthäus und Rumpelfußball blamierte sich die deutsche Mannschaft 2000 bis auf die Knochen.

Mit Libero Matthäus und Rumpelfußball blamierte sich die deutsche Mannschaft 2000 bis auf die Knochen.

(Foto: AP)

Der Titelverteidiger wusste nicht, wie ihm geschah. Kopflos ließ die deutsche Fußball-Nationalmannschaft im letzten Vorrundenspiel der EM 2000 Angriff um Angriff der flinken Portugiesen über sich ergehen. Als der Sturm vorbeigezogen war, leuchtete ein 0:3 von der Anzeigetafel im Rotterdamer Feijenoord-Stadion, Deutschland musste nach Hause fahren. Der 10. Juni 2000 markierte das Ende einer Ära, in der deutsche Mannschaften für ihre Kampfkraft und Verbissenheit gefürchtet wurden.

Auf den Tag genau zehn Jahre später krönten Philipp Lahm, Bastian Schweinsteiger, Torschützenkönig Thomas Müller und Co. ihre bemerkenswerte Leistung bei der Weltmeisterschaft in Südafrika mit einem 3:2-Sieg im Spiel um Platz drei gegen Uruguay – die endgültige Rückkehr in die Weltspitze. Zwischen der aktuellen Mannschaft und den Ribbeck'schen "Rumpelfüßlern" (Franz Beckenbauer), das sehen auch mäßig Fußballinteressierte, liegen Welten. Während der damals 39-jährige Lothar Matthäus als laufender Anachronismus auf der Liberoposition die Rückständigkeit des deutschen Fußballs verkörperte, zählt die Elf von Joachim Löw zu den modernsten Nationalmannschaften der Gegenwart.

Obwohl die Taktik die Voraussetzung für den derzeitigen Erfolg der DFB-Elf bildet, ist das Wissen um die Feinheiten des Fußballspiels in Deutschland noch nicht weit verbreitet – nicht in den Sportredaktionen und erst recht nicht an den Stammtischen. Eher findet man eine Ode an Jürgen Klopp in der Schalker Stadionzeitung als eine fundierte Taktikanalyse im "Kicker". Und solange Mario Basler sein unsägliches und von keiner Sachkenntnis getrübtes Phrasengedresche in den Medien als "Expertenmeinung" verkaufen kann, stehen die Zeichen auch nicht auf Besserung.

Die Pyramide kippt um

Mit 4-2-3-1 und moderner Spielanlage begeisterten Jogis Jungs bei der WM 2010.

Mit 4-2-3-1 und moderner Spielanlage begeisterten Jogis Jungs bei der WM 2010.

(Foto: picture alliance / dpa)

Einer, der die Taktik als unverzichtbar für das Verständnis des Spiels erachtet, ist Jonathan Wilson. Leuten, die das System für unwichtig halten, sollte das Sprechen über Fußball gänzlich verboten werden, schreibt er in der Einleitung seiner Geschichte der Fußballtaktik. Nun mag das eine übertrieben rigorose Forderung sein. Dem Niveau der Diskussion würde es sicher gut tun.

Wer mitreden will, für den ist "Revolutionen auf dem Rasen" ein perfekter Einstieg. Wilson zeichnet das ganz große Bild – vom ersten Länderspiel zwischen Schottland und England, in denen die Mannschaften mit sechs bzw. sieben Stürmern antraten, bis zur Gegenwart, in der die klassische Sturmreihe völlig zu verschwinden scheint. Der Weg dahin ist weit, aber die Tendenz klar: Die Pyramide, die das über die Jahrhundertwende vorherrschende 2-3-5 bildet, wird durch die immer defensivere Aufstellung auf den Kopf gestellt - daher der Originaltitel "Inverting the Pyramid", der in der reißerischen deutschen Übersetzung leider an Sachlichkeit einbüßt. Offensichtlich hatte der Verlag Werkstatt wenig Hoffnung, mit einem Buch über Fußballtaktik einen Verkaufserfolg in Deutschland zu landen.

Foul abseits des Rasens

Das Buch ist im Verlag Werkstatt erschienen.

Das Buch ist im Verlag Werkstatt erschienen.

Die Detailfülle, mit der Wilson aufwarten kann, ist erschlagend. Der Zettelkasten des Sportjournalisten muss schier überquellen - detailreich und gespickt mit Anekdoten beschreibt der Engländer die Entwicklung des Fußballs in der Sowjetunion, im Südamerika der 30er Jahre und, natürlich, in Großbritannien. Vom Catenaccio der Italiener über den Totaalvoetbal der Niederlande seziert er die vorherrschenden Spielsysteme der Zeit und analysiert ihre logische Weiterentwicklung bis zum modernen Tiki-Taka spanischer Prägung.

Schwächen zeigt das Buch, wo es den Rasen verlässt. Wilson ist die Analyse des Spiels offensichtlich nicht genug. Gleichzeitig versucht er sich an einer Kulturgeschichte des Fußballs, an der er sich an einigen Stellen verhebt. Für die deutschen Leser deutlich wird das besonders in seiner Abhandlung über die Spielergeneration um Beckenbauer und Netzer. Angelehnt an den Historiker Wolfram Pyta interpretiert er die Europameister von 1972 als Kinder ihrer Zeit, die wie im Falle Netzer den Nonkonformismus der 68er verkörperten. Einen Nachweis, wie sich ausgerechnet im erzkonservativen Fußball der 70er Jahre - Frauen durften damals noch keine Länderspiele unter dem Dach des DFB austragen - die gesellschaftliche Umwälzung der Studentenproteste widerspiegelt, bleibt er letztlich aber schuldig. Ohnehin haben solche Thesen an Glaubwürdigkeit verloren, seit sich mit den Krawallen in den Banlieus 2005 zeigte, dass die aus vielen Migrantenkindern besetzte Weltmeistermannschaft Frankreichs von 1998 mitnichten ein Symbol für eine erfolgreiche Integrationspolitik war.

Die Wahrheit, das pflegte Otto Rehhagel zu sagen, liegt eben auf dem Platz. Zieht sich Wilson auf dieses Gebiet zurück, kann ihm auch niemand das Wasser reichen - nur leider weiß der vielfach prämierte Autor das auch. Seitenlang lässt er sich über die Rückständigkeit des englischen Fußballs in den 80er Jahren aus, die seines Erachtens auf einem Denkfehler im System des einflussreichen Funktionärs Charles Reep basiert - einem Denkfehler, den Wilson höchstselbst entdeckt haben will. Hier hätte es zumindest der deutsche Leser verschmerzen können, wenn im Zuge der Übersetzung einige Kapitel gekürzt worden wären. Dem Lesevergnügen hätte es keinen Abbruch getan, im Gegenteil.  

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Quelle: ntv.de

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