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Mick Jagger, Ray Davies Wo ist die wirkliche Welt?

Von Manfred Bleskin

Da sind sie wieder, die alten Kämpen. Einst standen sich ihre Bands auf Augenhöhe in den Charts gegenüber. Während Jaggers Rolling Stones noch immer Stadien füllen, gibt's die Kinks schon lang nicht mehr. Und wenn Master Ray solo auftritt, dann reicht's gerade einmal für einen dreiviertelvollen Saal einer Berliner Universität der Künste. Ungerechter kann die Welt nicht sein. Woran liegt's? Der Kinks-Frontmann meint, die Stones hätten nach ihrem Karrierestart die Route 66 "from Chicago to L.A." eingeschlagen, während sich seine Truppe auf der M 6 von London aus in Richtung Norden begeben hätte. Das ist die halbe Wahrheit. Beide spielten US-amerikanischen Blues und Rock and Roll, auch nach ihrem Aufbruch in Britanniens Kapitale.

Doch während sich Davies' Kinks später - leider nicht sehr erfolgreich - mit Konzeptalben abmühten, setzten Jaggers Stones nach dem Flop von "Their Satanic Majesties Request" weiter unbekümmert auf Platten, die wenig mehr waren als Ansammlungen einzelner Songs. Hinzu kommt bei Jagger und Co. die manchmal peinlich wirkende Erotisierung, die einem staunenden Publikum über eine perfekte Marketingstrategie vermittelt wurde.

Nun hat sich auch Ray Davies eine solche ausgedacht: Am 21. Oktober werden anderthalb Millionen Exemplare seines neuen Albums "Working Man’s Caf" zusammen mit der "Sunday Times" verkauft. Dieses sein zweites - rechnet man die Konzertplatte "Storyteller" hinzu, eigentlich drittes - Soloalbum dürfte dem unermüdlichen Berichterstatter des englischen Alltags so endlich wieder die gebührende Aufmerksamkeit zuteil werden lassen. Ray Davies ist zweifellos einer der besten Songschreiber seiner Heimat: Auf der Scheibe widmet er sich - verpackt in soliden Rock and Roll - so aktuellen Dingen wie der Globalisierung, ehrt alte Arbeiter, warnt vor Drogenmissbrauch und wünscht sich nichts sehnlicher als den Frieden.

Derart komplizierte Dinge hatten es - von Ausnahmen abgesehen - Sir Michael Jagger nie angetan. Auch hat er kein neues Album vorgelegt, sondern eben nur eine Sammlung von Songs, die seiner und der Plattenfirma Ansicht nach die besten seiner vier musikalischen Alleingänge sind. Doch es gibt auch brillante Ausnahmen: "Memo From Turner" ist dabei, aus dem längst vergessenen Soundtrack von "Performance" aus 1969. Ry Cooder spielt in dem Stück eine memorable Flaschenhalsgitarre. Dazu "Checkin' Up My Baby" aus der Feder von Sonny Boy Williamson, einem der schwarzen Inspiratoren des weißen Britblues, bislang unveröffentlicht ... und der im Winter 1973 in Los Angeles von John Lennon (rpt: John Lennon!) produzierte Track "Too Many Cooks (Spoil The Soup)", natürlich auch "previously unreleased". Mann, was hätte aus Jagger werden können. Allein diese Aufnahmen wären hinreichend Grund, die CD zu erwerben.

Fast hätte ich's vergessen: Da ist noch eine DVD dabei. Spannendes Interview mit dem Helden. Aber auch der unvermeidliche Bono taucht auf. Und der ebenso unvermeidliche David Bowie, im Duettclip des größten Jagger-Solo-Hits "Dancin' In The Street". Ach, hätten sie den Ruhm des Songs doch Martha Reeves und ihren Vandellas überlassen.

"God Gave Me Everything I Want", singt der Stones-Frontmann. Und das ist es wohl, das ihn von Ray Davies unterscheidet: Jagger macht Musik nach Publikumsgusto und kriegt dafür alles, was er nur will. Davies arbeitet sich dem Sisyphos gleich an Themen ab, um das Publikum zum Nachdenken zu bewegen. Das Resultat beider Werke sagt einiges aus über den Zeitgeist. "Where is the real world?", wo ist die wirkliche Welt, fragt Ray Davies im Schlusssong seiner LP. Das frage ich mich auch.

Ray Davies: "Working Man’'s Caf", CD V2 Records
Mick Jagger: "The Very Best Of ...", CD/DVD, Atlantic Warner

Quelle: ntv.de

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