Nachts im Museum Kraftwerk, Models und Roboter
07.01.2015, 13:17 Uhr
Das sind die Musiker mit dem Taschenrechner in der Hand, quasi ...
(Foto: AP)
Es hat etwas Religiöses, wie sie da in die Neue Nationalgalerie pilgern: Fans und kunstbeflissene Berliner so kurz nach Silvester nach draußen zu locken, ist keine leichte Sache. Dass es ausgerechnet Düsseldorfern gelingt, ist geradezu romantisch.
Fahrn fahrn fahrn auf der Autobahn ... 1974, wir fahren auf der Autobahn, in einem Käfer, Richtung Italien. Mein Bruder und ich kloppen uns auf der Rückbank, unangeschnallt, über die Mitte. "Du bist auf meiner Seite", meckert er. "Ich bin auch größer als du, Wicht", antworte ich. Das geht so lange, bis ich ihm leider mitteilen muss, dass er wahrscheinlich sowieso nicht mehr wachsen wird und er anfängt zu heulen. Meine Mutter holt selbst gemachte Bouletten aus der Tiefkühlbox, damit wir erstmal die Klappe halten. Mein Vater öffnet das kleine dreieckige Fenster, Fahrtwind zischt herein und die Gegend an uns vorüber.
Die Hotels hießen damals Cristallo, das Parfüm war Kölnisch Wasser und die Musik aus dem Autoradio höchstwahrscheinlich nicht von Kraftwerk. Wir kannten die Combo damals noch gar nicht - dafür ist jetzt umso besser zu erkennen, aus der Entfernung von vier Jahrzehnten, dass die Jungs aus Düsseldorf visionär waren. Und es noch heute sind.
In den Jungbrunnen gefallen
Dienstagabend in Berlin: "Autobahn". Der erste Abend von acht, an dem Ralf Hütter, Fritz Hilpert, Henning Schmitz und Falk Grieffenhagen ihr Gesamtwerk in der Hauptstadt präsentieren. Seit 2012 tingeln sie durch die angesagtesten Museen der Welt, im Museum auf Modern Art in New York fingen sie an, nun also Berlin. Danach ist dann übrigens erstmal Ruhe in der Kiste, im wahrsten Sinne des Wortes: Wenn Kraftwerk ihre Auftritte über die Bühne gebracht haben, dann macht auch die Neue Nationalgalerie - genialer Auftrittsort für die Elektronik-Boys - dicht. Fünf Jahre wird das Gebäude von Mies van der Rohe saniert.
Und vorher eben nochmal "Autobahn". Das 1974er Album der weltbekannten "Audio- und Video-Operatoren", die in den Jungbrunnen gefallen zu sein scheinen, ist 2015 noch so alterslos wie eh und je. Wie machen die das? Interviews gibt's keine aktuellen, es sei denn, man findet 2009 aktuell, da hatte n-tv.de Autor Ingo Scheel eine der raren Gelegenheiten, Meister Hütter, einzig verbliebenes Gründungsmitglied, zu befragen. Bei stern.de sagte der jetzt 68-jährige Hütter: "Hierzulande wurde das eher belächelt. Wir mussten sogar Tourneen absagen, weil keiner zu den Konzerten kam." Uups, die aktuellen waren innerhalb weniger Stunden komplett ausverkauft. Und ehrlich gesagt: Es ist schon cool, dabei zu sein, tout Berlin spricht schließlich darüber, ärgert sich, nicht rechtzeitig Karten gekauft zu haben. Und fragt sich, womit man das Loch, das das Nichterscheinen bei einem der wichtigsten Termine im kulturellen Leben eines mit Understatement behafteten Berliners hinterlässt, wohl stopfen könnte. Die Antwort: mit nichts. Sorry. Denn wer hier drin ist, der "in" ist.
Lebende Legenden
Naja, nun ist aber auch gut mit der Selbstbeweihräucherung, wenngleich es schon toll ist, Teil der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft zu sein (vor allem mit der unvorteilhaften 3D-Brille auf der Nase, die das Video-Erlebnis allerdings großartig macht). Denn so ist es, selbst wenn keine weiteren Kraftwerk-Werke zu erwarten sind. Und wer denkt, dass so ein Abend mit Kraftwerk eher kalt und weniger emotional ist, der hat nicht in die Augen der (meist männlichen) Besucher gesehen, die zu den Kling-Klang-Klängen ihrer alten Helden abwippen - abtanzen wäre echt übertrieben. Das unterstreicht auch die Aussage Hütters vor gut sechs Jahren: "Dabei ist der 'Roboter', den wir ja in die Popmusik einführten, zu deutsch ganz einfach ein 'Arbeiter'. Und der Arbeiter hat natürlich auch ein Herz, ein romantisches sogar." Ja, einige Konzertbesucher haben sogar geknutscht.
Stücke wie "Tour de France" vom 1986er Album "Electric Café", das später in "Techno Pop" umbenannt wurde, und "Das Model" von 1982 haben uns unser Leben lang begleitet. Und beeinflusst. Bands wie Ultravox und Depeche Mode, Künstler wie David Bowie und Stilrichtungen wie Synth-Pop, Detroit Techno und auch Techno wären ohne Kraftwerk nicht das, was sie wurden. 2014 ausgezeichnet mit dem Grammy für ihr Lebenswerk haben die "Beatles der elektronischen Tanzmusik" (New York Times) es geschafft, die Themen ihrer Zeit markant und knackig, gern in Drei- oder Vier-Wort-Sätzen, zu benennen. "Auch Humor ist unverzichtbar", so Ralf Hütter nochmal. "Ohne ihn wird es sehr trocken. Mit unserem Album 'Autobahn' sind wir nach Frankreich, in die USA, nach England. Dort wurde es damals besser verstanden." Kein Wunder also, dass wir es damals nicht im Autoradio hören konnten.
Kraftwerk sind einzigartig
Und auch mit ihrem Konzept der Entpersonalisierung, also dem absolut nicht gelebten Starkult, haben sie Maßstäbe gesetzt - die allerdings kaum ein anderer Star je abgekupfert hat. Kraftwerk sind eben einzigartig.
"Computerliebe", das Thema "Mensch - Maschine" und Zeilen wie "Es wird immer weitergehen, Musik als Träger von Ideen" schwirren durch meinen Kopf, als die Veranstaltung Punkt 22 Uhr, nach dem kompletten "Autobahn"-Album und einem anschließenden Mix aus anderen Hits endet. Ich denke an das Gelbe Trikot von Didi Thurau und an PAC-MAN.
Fahrn fahrn fahrn auf der Autobahn ... 2015. Wenn ich das nächste Mal gen Italien fahre, werde ich meinen Kindern Kraftwerk vorspielen. Ich könnte mir vorstellen, dass sie es mögen. Ob wir dann auch selbst gemachte Bouletten dabei haben, steht aber noch in den Sternen.
Kraftwerk treten noch bis zum 13. Januar in Berlin auf, allerdings sind alle Konzerte ausverkauft und die Karten personalisiert.
Zum Nachhören empfehlen wir Techno Pop (Remastered), "Die Mensch-Maschine" oder ganz einfach "Autobahn"
Falls auch Sie Ihr Bild von Musik aus Düsseldorf korrigieren und erweitern wollen, empfehlen wir Elecri_city.
Quelle: ntv.de