Dosenbier, Dezibel, Dauerregen Roskilde - zurück in den Schlamm
03.07.2017, 16:35 Uhr
Der Rest vom Fest: Das Roskilde-Campingelände nach dem Ende des Festivals.
(Foto: REUTERS)
Seit Beginn der 90er-Jahre fährt n-tv.de Autor Ingo Scheel alljährlich zum dänischen Roskilde-Festival, letztmals 2005. Nach zwölf Jahren Pause hat er sich nun noch einmal dorthin aufgemacht: von der Neuentdeckung einer alten Liebe.
Irgendwann am Freitagabend auf der Orange Stage erzählt Dave Grohl von seinen Roskilde-Besuchen und die Sätze könnten meine sein: 1992 war ich zum ersten Mal hier, 2005 zuletzt, viel zu lange hat es gedauert, aber immerhin: Jetzt bin ich, ist Dave, sind wir ins dänische Festivalmekka zurückgekehrt.

Auch für Dave Grohl und die Foo Fighters war es ein bisschen wie nach Hause zu kommen.
(Foto: REUTERS)
Doch im Unterschied zum Foo-Fighters-Frontmann, der sich nach seiner Premiere hier mit Nirvana die Sommer anderswo um die Ohren geschlagen hat, bin ich auch in den Jahren dazwischen immer wieder hier gewesen, elf Mal insgesamt. Ich habe Nirvana gesehen und Slayer, Kraftwerk und Black Sabbath, Sugar und Sonic Youth, Plant und Page und Lemmy und Dylan und Young. Und Hunderte toller Shows verpasst. Habe Mark Lanegans historischen Wutanfall miterlebt, den Jahrhundert-Regen 1997 und die Katastrophe beim Pearl-Jam-Konzert. Ich habe Tickets verloren, Brieffreunde gewonnen, Experimente mit Schlafentzug ebenso überstanden wie Jägermeister-Frühstück, schwedischen Moonshine und norddeutsche Inhalations-Installationen aus Toilettenrohren und dabei gelernt, dass man Klamotten wechseln kann, aber nicht muss, wie gut Brathuhn und Bierdose zusammenpassen und dass es die kleinen Details sind, die Erinnerungsfotos auch Dekaden später noch zum Hingucker machen.
"Erstes Bier vor Ort"
Mitte der Nullerjahre schläft die Romanze zwischen mir und Roskilde ein, mal kickt mich das Line-up nicht, dann fehlt die Zeit. Ich werde Vater, habe anderes im sommerlichen Sinn. Das Alter nagt und ich hadere, ob ich den Dosenbier-und-Dezibel-Marathon überhaupt nochmal durchstehen würde. Irgendwann aber fängt es wieder an zu kribbeln. Im Vorjahr wird der Plan noch gekippt, aber 2017 heißt es: Rückkehr nach Roskilde. Zurück in den Schlamm. Expedition ins Schmierreich. Die Reisegruppe ist so ausgewogen wie übersichtlich. Weggefährte Mario und ich sind das Team Comeback, mein Paten“kind“ Max (25) und sein bester Kumpel Lennart bilden die Rookie-Abteilung, den hochmotovierten Debütantenball.

Wagten das Roskilde-Experiment: Mario, Ingo, Max und Lennart (v.l.n.r.).
(Foto: n-tv.de / Ingo Scheel)
Tage vorher steigt das Fieber der Festival-Aspiranten beider Generationen, die WhatsApp-Group ächzt unter der Datenmenge. Am Mittwoch, dem ersten Festivaltag, treffen wir uns früh am Morgen, bei Max zu Hause vor den Toren Kiels. Endlich heißt es Abfahrt. Unser Womo hat die Größe eines Alsterdampfers, Max fährt ihn mit der Bedächtigkeit eines erfahrenen Kapitäns, nahrungstechnisch sind wir ausgestattet wie eine Butterfahrt zum Junggesellenabschied. Das Vorhaben "Erstes Bier vor Ort" wird bereits nach etwa sechs Kilometern - im wörtlichen Sinne - gekippt.Beim ersten Sichten der knallorangenen Hauptbühne schließlich Euphorie im Womo. Check-in, Caravan-Parkplatz, beim ersten Drink die Nachbarn scannen.
Alles wie immer
Links von uns ein Wohnwagen aus dem Pleistozän, darauf die Aufschrift "Dead End City Supporters", die Besatzung ein dänischer Tross in Funktionskleidung, stoisch wie die Lichtdoubles für einen Kaurismäki-Film und ebenso durstig. Geradeaus macht es sich eine Mutter-Tochter-Zusammenführung mit klemmender Kartusche gemütlich, hinter uns ein völkerverbindendes Quartett in ugandischen Fußballtrikots, dessen meditative Slow-Cooking-Experimente auch vor Rührei und Kaffee nicht Halt machen. Kochen wird bei uns eher kleingeschrieben, auf ein kompaktes Knäckefrühstück folgen Finlandia-Tasting, gesunde Kräuterelixiere und sonstige Brotheinheiten.

3, 2, 1 - als die Tore zum Festivalgelände geöffnet wurden, gab es für die Fans kein Halten mehr.
(Foto: REUTERS)
Was im Vorfeld noch an Befürchtungen durch die Gedanken spukt - was, wenn alles anders ist? - verflüchtigt sich auf dem Campingacker schneller als man Zelthering sagen kann. Irgendwie ist das alles - im besten Sinne - wie immer.
Auf dem Gelände haben sich die Bühnen ein wenig verändert, der Tross von um die 130.000 Zuschauern ist noch mehr hyperaktiver Ameisenhaufen als vor 25 Jahren und statt Bargeld gibt es eine Cash Card in MusiCassetten-Optik. Sonst aber gemahnt alles an eine Moderation von Jörg Wontorra in "Bitte melde dich": Komm' nach Hause, wir haben dein Zimmer genauso belassen, wie du es kennst. In der Tat: Der Schritt zurück auf den Campus ist wie das Schlüpfen in deine Lieblings-Chucks - komfortabel, selbstverständlich, zuverlässig.
Liebevoller Tourette
Auch wenn das Line-up weniger persönliche Favoriten im Köcher hat als die Male zuvor, gibt es natürlich Highlights: Die walisischen Idles schimpfen noch unterhaltsamer als die Sleaford Mods, Kevin Morbys "I Have Been To The Mountain" klingt schon bei fünf Durchläufen im Soundcheck wie nicht von dieser Welt, die Hellacopters rechtfertigen in jedem Takt ihres dampfenden Sets die Band-Reunion. Future Islands growlen den Tau von den Wiesen, Royal Blood lassen es im Kreuzpunkt von Präzision und Power krachen, bei Erasure regnet es glitzerndes Konfetti.

The Hellacopters um Frontmann Nicke Andersson (im Bild) haben sich vor Kurzem wiedervereinigt - und rockten in Roskilde.
(Foto: REUTERS)
Generationsübergreifend levelt sich die Kommunikationsebene unseres Quartetts: Aus längeren Gesprächen wird eine Art liebevoller Tourette, aus Sätzen werden gebölkte Hashtags, aus Umarmungen Bierduschen. Wir trinken aus Reagenzgläsern einen Schnaps, der wie eine Mischung aus Eckes Edelkirsch und Batteriesäure schmeckt, am Jägermeister-Stand filmt mich ein Kamerateam in einem Schrottauto. Ich unterschreibe den beiden Jungs im Anschluss, ohne auch nur eine Zeile zu lesen - Bildfreigabe? Versicherung? Kauf einer Waschmaschine? - mit zittriger Hand einen Vertrag.
Wir reagieren Roskilde-Style
Am Freitagmorgen schließlich kracht es am Wohmobil, als hätte jemand ein Ölfass gegen die Außenwand geworfen. Wir hieven unsere Feinripp-Körper gen Ausguck und Tür: Die Markise ist unter der Wasserlast zusammengebrochen. Wir reagieren Roskilde-Style und legen uns wieder hin. Wasserlast? Ganz genau. Nachts hatte es angefangen zu schütten und sollte vorerst nicht wieder aufhören. Als wollte uns das Festival bei dieser einen Rückkehr all seine Facetten zeigen, verwandelt sich nun alles in ein regengeschwängertes Schlammbad: Es bilden sich riesige Seen auf dem Gelände, der Camping-Bereich direkt am Zaun des Areals wird zu einer schlammüberzogenen Twilight Zone, noch vorhandene Rest-Wohnwürde zerbröckelt wie ein chinesischer Glückskeks unter der Dusche. Campingstühle stecken im Morast, aus einer klitschnassen Box wummern Technoklassiker, in einem Handwagen schlummert ein Typ, nur mit Gummistiefeln und einem Halben Tuborg bekleidet. #YOLO hat jemand mit dem Edding auf Augenhöhe an die Innenseite der Dixi-Tür gekritzelt. In der Tat. Hatte ich mir vorher noch Gedanken über die Mitnahme meiner besten Band-TShirts gemacht, mir neue Cargoshorts gekauft, sehe ich jetzt - in Cordhose, Gumboots und Friesennerz aus wie der Chefredakteur vom Angelmagazin "Rute & Rolle". So what. Hashtag Zweckmäßig.
Auch die Musik spielt weiter: Against Me! zeigen, wie man mit einem Song ein ganzes Set bestreitet, Father John Misty hält auf der Orange Stage eine Art Soul-Messe mit viiiiiiiel Platz zwischen zwei Piano-Akkorden und die Foo Fighters machen ihrem Headliner-Status vollends Ehre. Und als man gerade genervt ist von Grohls "Roskilde!!!!"-Rufen und buchstäblich jedem stadiontechnisch dramatisierten Song mit Breakdown-Part gibt es am Ende ein furioses "Everlong" als klanggewordenes Roskilde-Gefühl: Blanke Euphorie.
Eine Träne im Knopfloch
Hatte man am Donnerstagmorgen, Hashtag Hangover, noch überlegt, wie man das alles überstehen soll, geht es dann irgendwann plötzlich ganz schnell. 35 Daypacks mit 50 MB (bitte hier Fluch einsetzen) sind an mir vorbeigerauscht, im Womo läuft HGich.Ts "Harz For" zum 112. Mal, die aus Frühstücksfleisch nachgebaute Elbphilharmonie haben wir aufgegessen, nur die Partypackung mit den Klopfer-Kurzen bleibt fast unberührt. Am Samstag spüre ich das Blinken meiner ganz persönlichen Reserveleuchte, meine Silbenzahl wird jetzt ebenso eingeschränkt wie meine Surfrate bei O2, ich freue mich jetzt mehr nach innen.
Es folgt nächtliche Womo-Aufklarung (für irgendwas muss die Reife des Alters ja gut sein), morgens Nescafé Gold, Doppelkeks, Träne im Knopfloch. Wir haben die Taschen gepackt und sind in Nullkommanichts runter vom Acker. Tschüss, Dead End City Supporters und ihr restlichen Nachbarn. Die Fahrt vergeht wie im Flug, vier Tage nach unserem Treffen endet das Unternehmen dort, wo es begann. Max übernimmt den Womoputz, Mario zieht es nach Gladbach, Lennart und ich fahren zurück nach Hamburg. Ach ja, die Markise - die wird uns wohl die Kaution kosten, aber Schwund ist überall. "We can't wait to see you all again", lese ich auf der Facebook-Seite des Festivals. Wir können das nur erwidern. Nach dem Festival ist vor dem Festival. Die Planung für #RF2018 hat begonnen. Ich kann es kaum erwarten, dich wiederzusehen, Roskilde!
Quelle: ntv.de