Sexy, dürr, verknallt, neu Westernhagens "Große Freiheit"
02.04.2014, 12:30 Uhr
So emotional wie damals wird's wohl nie mehr ...
(Foto: dpa)
Weder TV-Show noch Radio-Premiere, keine Pre-Listening Session - nein, der ewige Marius stellt sein neues Album "Alphatier" dort vor, wo er sich immer noch pudelwohl fühlt: im Club. Mit dabei ist die neue Liebe. Und Hamburg schloss ihn in die Arme.
Eine türkische Oma in Steppjacke fingert Pfandflaschen aus bunt beklebten Mülleimern. Zwei Häuser weiter verhandelt eine junge Prostituierte mit übersichtlichem Gebiss ihre Dienstleistung. Sex für 30 Euro steht zum Gebot. "Nun komm schon", feuert sie ihren Kunden in spe an. Direkt daneben scheitert ein Anfang 20-Jähriger am Schreiben einer SMS. Und vorn, nach der Freiheit raus, da stehen die ersten Fans schon bis zum Funky Pussy Club, bis zur Leuchtreklame vom "Colibri", und warten stoisch auf den Einlass in die Große Freiheit 36. Auf das Konzert von Marius Müller-Westernhagen, der hier und heute seine neue Platte präsentiert.
Und wenn Westernhagen einst beim Schreiben von "Mit 18" einen Ort, eine Straße, einen Geruch im Sinn gehabt hat, das hier könnte er sein. Zurück auf die Straße, wieder singen, nicht schön, sondern geil und laut. Heute abend: Hamburch. Vielleicht nicht ganz sein Revier, aber immerhin das einstige Exil des Mannes aus dem Pott. Der hat mit "Alphatier" nun sein 19. Studioalbum im Gepäck und - Stadien hin, Mehrzweckhallen her - der dürre, tatsächlich sogar unglaublich dürre Hering ist vor diesem Clubgig sichtbar angespannt.
MMW ist noch immer aufgeregt
Mit Schweißperlen auf der Stirn und leiser Stimme ("Ich muss heute noch arbeiten") absolviert er kurz vorm Gig seine Pressekonferenz. Fragen zur neuen Liebe, Backgroundsängerin Lindiwe Suttle, bügelt er professionell ab, ein Alphatier, wie sein Albium heißt, sei er auch nicht, er mag nur das Wort an sich so gern. Borussia Dortmund möge doch bitte gegen Real wenigstens ein Remis holen, und ja doch, er ist wirklich unglaublich aufgeregt und hofft, dass Hamburg nachsichtig ist mit ihm und seiner Band, die doch diese Songs noch nie live gespielt hat. Die Essenz der Konferenz ist übersichtlich. Gute anderthalb Stunden später ist das gesprochene Wort eh Makulatur.
Die "Freiheit" hat sich schnell gefüllt, Plätze in der ersten Reihe werden eingenommen und nicht wieder verlassen. Vom Band gibt es die Beatles, frisch erstandene Westernhagen-T-Shirts werden über den Pulli gewurschtelt und fürs Erinnerungsfoto zurechtgezupft. Und ehe man es sich versieht: Licht aus, Spots an. "Hereinspaziert" lautet der programmatische Titel des Openers, ein Stampfer wie aus einer LedZep-Session, direkt hinterher gibt es den Titeltrack der neuen Platte, ähnliches Tempo, ähnlicher Groove. Die Band läuft schon ziemlich gut geölt, nur das Alphatier selbst scheint noch ein wenig den Rost von der Hüfte klopfen zu müssen.
Hüpfen und Flirten mit der Neuen
Passenderweise wird schon beim dritten Song auf die Bremse getreten. "Liebe (Um der Freiheit willen)" entpuppt sich direkt als typisch überlebensgroßer Marius-Entwurf von Freiheit, Demokratie, Lust und Liebe. Das krächzt und gurgelt und fleht und röhrt, wie man es von ihm kennt und als wäre das alles nicht genug, tanzt und hüpft Westernhagen beim nächsten Song "Oh Herr" nun noch Hand in Hand mit Lovely Lindiwe nach vorne, als wolle er sagen: So, das ist sie. Schaut sie euch an. Meine neue Liebe. Und jetzt keine Fragen mehr. Genießt doch einfach mit mir. Dazu grinst der Pfefferminz-Prinz, stolz wie Bolle. Er ist schmal an diesem Abend, der Grat zwischen Schamanentum und Liebeskasperei - immer wieder tanzt Marius die Frau im Hintergrund an, feixt und flirtet mit ihr, küsst sie und sucht ein ums andere Mal Bestätigung in ihrem Blick.
Selbige gibt es aber nicht nur aus dem Rückraum, die gibt es auch von vorn, wenn es auch bis zur Zugabe dauert, dass wirklich alle Kanäle geflutet werden. Bis dahin gibt es nämlich konsequent und unerbittlich alle zwölf Songs der neuen Platte, die beiden Bonustracks noch oben drauf. "Wollt ihr die überhaupt hören?" fragt Marius am Ende des Sets verschwitzt-kokett. Na klar wollen sie, es könnte sich ja doch noch irgendwo ein instant Classic verbergen. Tut er dann aber leider doch nicht. Stattdessen variiert Westernhagens exquisite Band lediglich zwei Tempi, den mittelschweren Groover und den langsamen Blues. Nur einmal bricht das Muster: Mit "Clown" tritt das Ensemble plötzlich das Gaspedal durch, zückt Gitarrist Brad Rice, der aussieht wie der jüngere Bruder von Aerosmith’ Joe Perry, das Bottleneck und gibt dem Affen Zucker. Geht doch. Aber leider viel zu kurz. Das Bottleneck bleibt danach zwar auf dem Finger, das Tempo geht jedoch gleich wieder runter. Von Neuartigkeit und Frische, von Drive und Energie hatte Westernhagen auf der Pressekonferenz gesprochen und wie er so da saß in der extra-slim Jeans und den lilafarbenen Brillengläsern, dem verschmitzten Zug um die Mundwinkel,mochte man es ihm durchaus glauben.
Wann wird's mal wieder richtig "Sexy"?
Und es stimmt ja auch irgendwie. Nur ist "neu" bei MMW eben nicht wirklich neu, sondern höchstens eine neue Variation des Alten. Die Liebe zum Blues, zu den Stones, dem Rollen von Led Zeppelin oder dem Hüftschwung der Black Crowes ist immer noch der Gencode des Westernhagen'schen Materials. Swamp Stomp, Country-Anklänge, ein wenig Südstaatenflair - das sind die Koordinaten. Und so wie die Songs von Weite und Land und Atmosphäre geprägt sind, ist es vielleicht genau das Gegenteil davon, das Urbane, das Kratzige, der Kneipenduft von nebenan, der dem geneigten Fan letztlich fehlt.
So kann sich Westernhagen ein ganzes Set voller unbekannter Songs lang auf die Loyalität seiner Anhänger verlassen. Aber diese gewachsene Treue ist eben auch eine Hypothek, an der er sich immer wird messen lassen müssen und die ihm bei der Zugabe mit Krachern vom Schlage "Mit 18" oder "Sexy" im ohrenbetäubenden Applaus noch einmal vor Augen geführt wird: So emotional wie damals wird’s nicht mehr werden.
Das zeigt besonders seine Mär vom "Taximann", die Westernhagen hier zum Besten gibt und deren Zeilen er doch kaum singen muss, so textsicher und unglaublich laut, ja, erleichtert, endlich eins mit dem Helden sein zu können, schmettert die ausverkaufte Große Freiheit jedes Wort mit. Der Song stammt von seinem Debütalbum "Das erste Mal". Von 1975. Ob einer der neuen Songs jemals so mitgeschmettert wird, ist fraglich. Aber vielleicht will der Mann da vorne das ja auch gar nicht, kann er mit dem über Jahre gereiften Mix - nehmt hier meine neuen Songs, dann gibt es dort auch die Gassenhauer - bestens leben.
Als am Ende, nach einem weiteren Klassiker, der Legende von Johnny Walker, schließlich das Licht im Saal angeht, wollen es die meisten nicht wahrhaben. Pfeifen, Gröhlen, Marius-Rufe erheben sich. Aber nichts da. Die Arbeit ist getan. Auf der Bühne wird schon abgebaut. Die Fans trollen sich. Irgendwo hebt ein Chor angetrunkener Mittvierziger noch einmal an: "Geh' doch nach Haus, du alte Scheiße!" grölen sie unvermittelt ins Gemurmel. "Und so einem bin ich 25 Jahre hinterher gereist. Was für ein Mist!" zetert einer von ihnen. Auch das ist Hamburg an diesem Abend. Willkommen zurück. Auf der Straße.
Quelle: ntv.de