Oliver Kahn hat seine Karriere beendet.
Und wenn jemand von der Bühne verschwindet, ...
... dann hält man sich höflich mit Kritik zurück, ...
... ganz egal, wie herausfordernd sich der ehemalige Stabsangehörige in der Vergangenheit auch verhalten haben mag.
Stattdessen muss man - auch wenn man fast dabei verzweifelt - mit dem Widerborst verbal kuscheln und nach positiven Dingen suchen, ...
... die man über den zukünftigen Rentner berichten kann.
Weil diese Grundregel des erleichtert Abschied-Nehmens auch für Oliver Kahn gilt, ...
... hat ihn sogar Erzrivale Jens Lehmann öffentlich für seine professionelle "Einstellung" gelobt.
Die beiden werden vermutlich im Leben nicht mehr Freunde, ...
... aber wenn ein missliebiger Kontrahent den Kampfplatz verlässt, ist die Freude der verbliebenen Haudegen fast immer so groß, ...
... dass sie den Abschied mit gnädiger Nachrede begleiten.
Man kann viel Gutes über Kahn sagen, zum Beispiel, ...
... dass er auch außerhalb des Spielfeldes bekannt geworden ist.
Außerdem könnte man erwähnen, dass er ganz schön erfolgreich war in seinem Beruf und dass er ...
... stets polarisierte, ...
... nicht nur solange er zwischen den Torpfosten stand.
Allerdings kommen all diese Dinge quasi von selbst, ...
... wenn man beim FC Bayern München einen Vertrag unterschreibt und regelmäßig spielt.
Viel interessanter ist deshalb, wie der 86-malige Nationalspieler seinen Weg zum Rekordmeister fand: ...
Oliver Kahn ist ein Kind der 80er Jahre und deshalb - wie jeder gute Teenager damals - besonders von den Hollywood-Filmen seiner frühen Jugend geprägt.
In einem Interview mit der "SZ" erklärt er, dass besonders seine ganz persönlichen fantastischen Vier die eigene Wahrnehmung des amerikanischen Traums entscheidend beeinflusst haben: "Rocky", "Rambo", "Scarface" und "Wall Street".
Sich aus cineastischem Blendwerk für Teenies ein Leitbild für das eigene Leben oder die eigene Karriere zusammenzunageln, ist eine Idee ...
... von so atemberaubender Schlichtheit, dass darauf fast zwangsläufig in späteren Tagen Komplikationen folgen müssen, ...
... die dann bei unbeteiligten Beobachtern für Erstaunen sorgen.
Die Adoleszenz des Athleten Kahn war vermutlich - auch aufgrund seiner pubertären Prägung - genauso schwierig und schmerzhaft, wie die härtesten Phasen seiner Profikarriere.
Der emotionale und soziale Reifungsprozess, die kritisch-hinterfragende Würdigung von Autoritäten und die Selbstfindungsphase dürften wegen der dominanten cineastischen Leitmotive ...
... erste Titanen-Aufgaben im Leben des ruhmsüchtigen Milchbarts gewesen sein.
Kurz zur Erinnerung: Die Haupthandlungsträger in den Film-gewordenen Glaubensbekenntnissen des Jungtorwarts sind sich in ihren para-autistischen, manischen Charakterzügen allesamt sehr ähnlich:
Rocky ist ein untalentierter, unter Qualen trainierender Boxer, der es erst als Lebenschance und später als großen Sieg interpretiert, ...
... dass er immer einen Schlag mehr mit seinem blutenden Kopf parieren kann, als der Gegner mit eiserner Faust auszuteilen im Stande ist.
Im zweiten Stallone-Film auf Kahns Liste wird die Boxerfaust gegen die Panzerfaust getauscht.
"Rambo" handelt von einem krankhaft gereizten, quasi unbezwingbaren, schwer traumatisierten Vietnam-Veteranen, dessen Seelenschmerz ...
...nur deshalb niemand nachfühlen kann, weil er eine gemeingefährliche menschliche Killermaschine ist und ganz klar 'ne Schraube locker hat.
"Scarface" ist die Geschichte eines Gangsterparvenüs, der besonders durch viehische Brutalität, unerbittliche Furchtlosigkeit und pathologischen Hochmut auffällt. Die Geschichte gibt's inzwischen auch als Videospiel (Bild).
Immerhin wird er am Ende des Films mit einer Schrotflinte hingerichtet.
Vorher hatte er natürlich alles erreicht, obwohl er damals als absoluter Underdog mit den schlechtesten Voraussetzungen anfangen musste.
In "Wall Street" geht es um einen gut angezogenen, skrupellosen Unternehmensplünderer (l.), dessen Eitelkeit nur noch von seinem Dünkel übertroffen wird.
Auch in diesem Film steht die Show eines unverstandenen Egomanen im Vordergrund, der den Erfolgs- und Leistungsprinzipien alles andere unterordnet und sich einen ...
... feuchten Dreck um Regeln und Gesetze schert, die andere für bindend und zivilisationsstiftend halten.
Allen vier Filmfiguren fehlt es zwar an Genialität und Einfallsreichtum, nicht aber an Hybris und wahnsinnigem Ehrgeiz.
Als Sportler, Krieger, Gangster oder Finanz-Hai schießen die Hauptdarsteller beim Erreichen maximaler Ergebnisse gnadenlos übers Ziel hinaus.
Von diesen Stilikonen seiner Jugend hat Kahn offenbar gelernt, dass man es als bindungsarmer, ...
... schweigsamer Desperado weit bringen kann, wenn ...
... man Gegenspieler effektiv bedroht, sie verunsichert, verängstigt oder einschüchtert, ...
... dass man Konkurrenten wegbeißen und entmutigen kann, wenn man ihnen roh und unverhohlen die eigene Gewaltbereitschaft anzeigt, ...
... herumbrüllt wie ein tollwütiges Raubtier oder hin und wieder den eigenen Jähzorn brühend aufschäumt und in einem irren Veitstanz zum Kochen bringt.
Mit diesem Rüstzeug im Koffer zog Kahn von Karlsruhe nach München, überwand ...
... alle Konkurrenten, die auch der Beste sein wollten und ...
... gewann mit dem FC Bayern fast alle Titel, die man im Vereinsfußball so gewinnen kann.
Die beiden wichtigsten internationalen Trophäen einer wirklich großen aktiven Fußball-Karriere hielt er jedoch nie in den Händen.
1996 feierte er den EM-Triumph der DFB-Elf lediglich als passives Kadermitglied, und im Jahr ...
... 2002 spielte er zwar eine fast perfekte WM, musste aber nach dem Finale bilanzieren: ...
"Einen einzigen Fehler habe ich in sieben Spielen gemacht, und der wurde bitter, bitter bestraft."
Es war vielleicht sein Fehler, aber die Finalniederlage hat natürlich nicht nur diesen einen Grund. Was Kahn zum ganz großen Triumph fehlte, war neben einem glücklicheren Händchen vor allem ein Mittelfeldspieler, der ...
... den Druck, den Kahn auf den gegnerischen Sturm ausübte, auf die Abwehr des Gegners übertrug.
Die brasilianische Zeitung "O Globo" erklärte Kahn am Tag nach der Niederlage, woran es lag: ...
"Es war der Sieg der brasilianischen Schule, der Schule der Technik, des Talents und der Kreativität über die Schule der steifen Hüfte, ...
... des Kampfes mit dem Ball und der physischen Kraft, ohne Zweifel die Schule des Mannschaftsspiels, aber ohne eine einzige Spur von Begabung."
Oliver Kahn machte sich nie die Mühe, von sich selbst ...
.... das öffentliche Bild eines hochbegabten Fußballers zu zeichnen.
Er entschied sich für die glaubhaftere Variante und erklärte über talentierte Fußballer: "Ich hab mich immer gefragt, ...
... warum scheitern die eigentlich immer, die waren doch in der Jugendzeit besser als ich. Talent ist was Wichtiges, es nützt Dir aber nichts, ...
... wenn du nicht bereit bist, ...
... hart zu arbeiten."
Im WM-Finale konnte man ...
... Völlers mäßig begabten Rumpelfußballern mangelnden Elan nicht vorwerfen.
Die Elf bot zwar die erste ansehnliche Vorstellung während des gesamten Turniers, trotzdem ...
... wurde Michael Ballacks Talent besonders von den deutschen Fans schmerzlich vermisst.
In einem Mannschaftssport hilft es nichts, wenn der Torwart seine Rolle als forderndes Über-Ich in einer ansonsten überforderten Mannschaft interpretiert, und gegen Brasilien gewinnt man nicht, wenn man nur einen selbstbewussten Keeper zu bieten hat.
Auch Oliver Kahn konnte ein Spiel nicht allein entscheiden, ganz egal, wie sehr er sich das in seiner aktiven Zeit gewünscht hat: ...
"Das ganze Spiel über die schlechtere Mannschaft sein und dann in der letzten Minute durch ein unverdientes Tor 1:0 ...
... gewinnen - das sind doch die besten Spiele für uns Torhüter", gab Kahn einst gewohnt boshaft zu Protokoll.
Kahns Klasse hatte in seinen ersten Jahren beim FC Bayern keiner der Feldspieler, darum vielleicht diese Provokation.
Er hatte es zunächst schwer, seinen Ambitionen bei den Bayern auch handfeste Titel folgen zu lassen. Ihm fehlte professionelle Unterstützung.
Trotzdem begann sein persönlicher sportlicher Höhenflug Mitte der 90er Jahre, weil er Gelegenheit hatte, sich auszuzeichnen.
Bei Champions-League-Auftritten fiel Kahn immer wieder als bester Mann im Bayern-Trikot auf.
Die international kaum konkurrenzfähigen Feldspieler verließen sich regelmäßig und gern - ...
... trotz all seiner Ausfälle - auf ihren überragenden Rückhalt im Tor. Schließlich waren seine Reaktionen immer nur dann kritikwürdig, wenn er nicht mehr auf der Linie stand.
Kahn war in dieser Zeit regelmäßig im Einsatz, wegen der schwachen Abwehr dauernd gefordert und trotzdem kaum zu überwinden.
Immer wieder verhütete er höhere Niederlagen oder ein allzu frühzeitiges Ausscheiden seines Teams im internationalen Geschäft.
Kahn konnte beschämende Pleiten abwenden, Blamagen verhindern, knappe Siege und einzelne Punkte sichern, aber ...
... einem Spiel, das auf der Kippe stand, konnte er als letzter Mann hinter der Abwehr nie die entscheidende Wendung geben.
Er musste auf wenigstens einen Mittelfeldspieler warten, ...
... der seine Führungsansprüche teilte, ...
... seine kompromisslose Siegerphilosophie mittrug und außerdem noch ...
... eine ordentliche Portion Talent ins Bayern-Spiel brachte.
Der Nationalkeeper feierte seine größten Erfolge im Bayern-Trikot erst, als beim so genannten FC Hollywood ....
... die Effenberg-Jahre zum zweiten Mal begannen.
In dieser Zeit wurde das rot-weiße Glaubensbekenntnis vom absoluten Leistungsdarwinismus mit Stolz in die Öffentlichkeit getragen.
Die Führungsspieler des Klubs wurden von Experten sarkastisch als das ...
... Bundesliga-All-Star-Team ...
... der Sozialkompetenz bezeichnet. Die beiden Hauptpersonen in der Mannschaft erspielten und erkämpften dem Klub zwischen 1998 und 2002 insgesamt neun Titel.
Wobei Effenberg eher spielte ...
... und Kahn eher kämpfte. Zusammen stießen die beiden in dieser Phase auf die komplette Bandbreite denkbarer Fan-Resonanz: Zwischen gottgleicher Bewunderung ...
... und totaler Missbilligung erlebten die Bayern-Stars in Europas Stadien alles, ...
... was emotionsgeladene Fußball-Verrückte sich einfallen lassen können, ...
... um die Aufmerksamkeit der Medien und der Spieler nur für einen kurzen Moment auf sich zu lenken. Spätestens nach dem Sieg in der ...
... Champions-League und dem Titelgewinn 2001, in der letzten Minute der Nachspielzeit beim HSV, hatten sich Kahn, Effenberg und mit ihnen das ganze Bayern-Team auf der Liste der unbeliebtesten Deutschen an die Pole-Position gesetzt.
Effenberg und der FC Bayern sind für die Mehrzahl der Fußball-Begeisterten als Sieger schwer vermittelbar, ...
... aber Kahn war in seinem manisch-narzisstischen Erfolgsrausch allenfalls für die Fans des Rekordmeisters noch zu ertragen.
Man musste schon Anhänger der Bayern sein, wenn man das hier unbedingt jedes Jahr wieder erleben wollte.
Eine Image-Korrektur gelang Effenberg bis heute nicht, und auch ...
... Kahn brauchte insgesamt mindestens drei große Fernsehauftritte, um das Etikett des vom Ehrgeiz zerfressenen Soziopathen langsam zu korrigieren und von seinem Trikot herunterzuwaschen.
Als Kahn sich im Champions-League-Finale 1999 in der Nachspielzeit zwei Tore von Teddy Sheringham (91. Minute, im Bild) und Ole Gunnar Solskjaer (93. Minute) einfing, ...
... war nach dem Abpfiff das zweite Gesicht des Olli Kahn erstmalig kurz für Gegner ...
... und das geneigte Publikum sichtbar.
Er war tief enttäuscht und machte vermutlich seine erste sportliche Mitleidserfahrung.
In der Niederlage sammelte der traurige Perfektionist erstmals öffentlich Sympathiepunkte, die er aber innerhalb weniger Wochen wieder verspielte.
Zum zweiten Mal gelang ihm dieses Kunststück, als er wieder einmal nicht richtig funktionierte, ...
... als er menschliche Schwäche zeigte und den Brasilianern die Führung und damit den Sieg im WM-Finale 2002 ermöglichte.
Die dritte große Freundlichkeitsoffensive folgte vier Jahre später während des WM-Viertelfinalspiels zwischen Deutschland und Argentinien.
Kahn wünschte seinem Erzrivalen Jens Lehmann vor dem Elfmeterschießen ...
... gegen den zweimaligen Weltmeister viel Glück - ...
... für einen fairen Sportsmann eine Selbstverständlichkeit. Weil aber die Geste von Oliver Kahn kam, reagierte Deutschlands Boulevard so hysterisch wie sonst nur der Keeper selbst.
Nachdem die Argentinier nach Hause geschickt waren, folgte die mediale Inszenierung von Kahns ...
... Initiation in die Gemeinschaft zivilisationstauglicher Wesen.
Zu diesem Zeitpunkt war er von der DFB-Clique längst als unüberwindliches Bollwerk und als Superstar zwischen den Pfosten demontiert.
Der Zenit seiner Karriere war längst überschritten, und weil er nur noch als ganz normaler Torwart wahrgenommen wurde, ...
... ließ er kurz vor seinem Abritt auch ganz normale öffentliche Auftritte zu.
Natürlich waren es nicht nur Klinsmann & Co., die ihn aus seinem Machtbereich im DFB-Tor vertrieben hatten.
Er hatte zum Teil auch selbst Schuld, denn er ließ sich nach der auszehrenden WM 2002 und dem folgenden Titanen-Bullshit des Boulevards einmal mehr zu menschlichen Reaktionen hinreißen.
Diesmal gab's allerdings keine Sympathiepunkte dafür.
Kahn suhlte sich nach der WM in Asien satt und zufrieden in der öffentlichen Aufmerksamkeit ...
... und genoss es sichtlich, wenn nicht gemocht, so doch wenigstens respektiert zu werden.
Er verließ seine damals schwangere Frau (Kuss-Szene mit Jugendliebe Simone am Hochzeitstag), kaufte sich einen italienischen Sportwagen ...
... und gönnte sich als Krönungs-Accessoire seines ...
... Erfolges eine Clubbing-Konkubine ...
... zum Herumzeigen, Spazierenfahren, Tanzen und ...
... Amüsieren.
Die Welt sollte endlich den heiteren Lebemann, ...
... den Playboy "King-Kahn" kennen und lieben lernen.
Natürlich ging der hochmütige Plan voll nach hinten los.
Ein Torwart wird nie als Tänzer respektiert, ...
... ein Einzelgänger nicht als Salonlöwe ...
... und ein biederer Arbeiter nicht als Lebemann.
Die meisten Menschen werden für genau das respektiert, was sie wirklich gut können; und dieses Prinzip funktioniert weitgehend gerecht.
Deshalb blieb Kahn ein Torwart ...
... und seiner Disko-Freundin blieb die erträumte Mega-Karriere als Fernsehmoderatorin, Hollywood-Diva oder Sängerin verwehrt.
Kahns ganz persönliche Fußball-Biografie hat leider gar nichts mit einer gut funktionierenden Hollywood-Story gemein. Schließlich ist der Mann von Beruf Torwart und nicht Traumtänzer.
Vielmehr ist die Geschichte von Oliver Kahn ein reales, zeitgemäßes und gemeines Lehrstück aus der Mitte des Lebens eines aussichtsreich arbeitenden Mannes.
Auf dem Gipfel will der erfolgreiche Macher die viel zu kurzen Augenblicke in der Sonne lieber im offenen Ferrari mit Fans und Freundin genießen, ...
... als hinterm Steuer der Familienkutsche. Doch diese Extra-Touren hatten ihren Preis.
Die privaten Turbulenzen gingen nicht spurlos am Kapitän der Nationalelf vorüber. Kahn ließ es während der Neuausrichtung seiner Leidenschaften an Enthusiasmus für den Fußball fehlen und büßte einen Teil seiner sportlichen Leistungsfähigkeit ein.
Er versagte in wichtigen Spielen, wurde angreifbar und brachte sich dadurch selbst um seinen Stammplatz in Klinsmanns WM-Kader.
Jetzt, wo er endgültig vom Platz geht, ist natürlich auch diese persönliche Niederlage vergeben und vergessen. Das alles macht ihn menschlicher.
Und Menschlichkeit ist das wichtigste Imageziel, das mit der Marke Oliver Kahn derzeit medienwirksam mit unzähligen Interviews abseits des Fußballplatzes verfolgt wird.
Schließlich ist es schwierig, eine Person, die nichts Besonderes mehr leistet, ausschließlich als besessenes, rücksichtsloses, bissiges Unikum zu vermarkten.
Was Oliver Kahn als Person des öffentlichen Lebens noch folgen lässt, wird mit Spannung erwartet.
Was sportlich bleibt, sind viele gehaltene Unhaltbare vom dreimaligen Welttorhüter ...
... und besten Spieler des WM-Turniers im Jahr 2002. (Text: Henning Troschel)