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Blindgänger nach 80 Jahren "Von chemischen Langzeitzündern geht die größte Gefahr aus"

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Diese 500 Kilogramm schwere Bombe ist eine von vielen, die Matthias Kotulla und sein Team entschärft haben. Sie wurde 2013 in einer Baugrube in Berlin-Schmargendorf gefunden.

Diese 500 Kilogramm schwere Bombe ist eine von vielen, die Matthias Kotulla und sein Team entschärft haben. Sie wurde 2013 in einer Baugrube in Berlin-Schmargendorf gefunden.

(Foto: picture alliance / dpa)

Matthias Kotulla hat aufgehört zu zählen, wie viele Bomben er in seinem Leben schon entschärft hat. Denn entscheidend sei immer die eine Bombe, mit der man gerade zu tun hat, sagt er. Der 56-jährige Familienvater ist Polizeifeuerwerker in Berlin. Seit 2008 entschärft er Bomben und andere Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg. Davon befinden sich auch 80 Jahre nach Kriegsende große Mengen im Boden. Allein in Berlin hat der Kampfmittelbeseitigungsdienst wegen Funden statistisch gesehen zwei bis drei Einsätze pro Tag. Im Interview mit ntv.de erklärt Matthias Kotulla, warum die Kampfmittel im Laufe der Jahre gefährlicher werden und welche Rolle Angst bei seiner Arbeit spielt.

ntv.de: Seit mehr als 80 Jahren liegen nicht explodierte Kampfmittel wie Bomben und Granaten aus dem Zweiten Weltkrieg im Boden. Wie verändert sich der Zustand der Blindgänger?

Matthias Kotulla: Die Kampfmittel bestehen grundsätzlich aus Metall. Dieses Metall unterliegt der Korrosion, die je nach Bodenbeschaffenheit voranschreitet - ob also viel Feuchtigkeit daran kommt oder es ein trockener Sandboden ist. Insbesondere empfindliche Teile wie die Zünder sind von der Korrosion stärker betroffen als die dickwandigen Hüllen, also die Kampfmittelkörper.

Matthias Kotulla, hier auf dem Sprengplatz Grunewald, arbeitet seit 1985 für die Polizei.

Matthias Kotulla, hier auf dem Sprengplatz Grunewald, arbeitet seit 1985 für die Polizei.

(Foto: Heidi Ulrich)

Wie macht sich das bei den Zündern bemerkbar?

Die Zünder sind teilweise aus sehr dünnem Material, teilweise aus Aluminium. Die sind relativ schnell durchgerostet. Dann liegen empfindliche Teile wie die Zündnadel oder die Übertragungsladung frei und sind sehr sensibel gegenüber mechanischen äußeren Einwirkungen.

Was für mechanische Einwirkungen könnten einen Blindgänger zur Explosion bringen?

Das sind zum Beispiel Baumaschinen, die bei Bodenarbeiten auf die Kampfmittel einwirken. Aber auch bei der Entschärfung selbst kann es dazu kommen, wenn man den Zünder aus der Bombe herausbekommen möchte.

Reicht etwa bei Bauarbeiten schon eine leichte Berührung?

Das ist abhängig von der Art des Zünders. Bei einem chemischen Langzeitzünder reicht ein mechanischer Impuls, der nicht mal stark sein muss. Ein Stoß mit einer Baggerschaufel würde komplett ausreichen. Bei Bomben mit einfachem mechanischem Aufschlagzünder müsste gezielt auf den Zünder eingewirkt werden, um die Wirkrichtung des Schlagbolzens zu beeinflussen.

Blindgänger

Als Blindgänger werden nicht detonierte Kampfmittel bezeichnet. Neben Bomben können das unter anderem Granaten, Patronen und Minen sein. Experten schätzen, dass in Deutschland noch etwa 100.000 Tonnen an Blindgängern im Boden liegen. Darin nicht enthalten ist die Kriegsmunition in der Nord- und Ostsee. Laut Bundesumweltamt (Stand 2023) werden in deutschen Meeresgewässern etwa 1,6 Millionen Tonnen konventionelle Munition und 5000 Tonnen chemische Kampfstoffe vermutet.

Wie funktioniert so ein Langzeitzünder, was macht ihn so empfindlich?

Bei einem chemischen Langzeitzünder ist ein Schlagbolzen mit einer Feder vorgespannt. Beides ist in einen Kunststoff eingegossen, der die gespannte Feder mit dem Schlagbolzen festlegt. Dieser Kunststoff wird im Laufe der Jahre brüchig. Durch einen Impuls, etwa eine Baggerschaufel, könnte er aufreißen. Die Kraft der Feder würde dann ausreichen, um den Schlagbolzen ins Zündhütchen zu stoßen.

Neben Bomben befinden sich weitere Arten von Blindgängern im Boden. Hin und wieder liest man von Spaziergängern, die Weltkriegsmunition in Waldstücken oder am Strand finden, zum Beispiel verrostete Granaten oder Patronen. Sind diese kleineren Kampfmittel überhaupt noch als solche erkennbar?

Für Laien sind einige Munitionskörper tatsächlich schwer zu erkennen. Andere haben typische äußere Merkmale, etwa eine spitzzylindrische Form. Da kann man auch als Laie draufkommen, dass es sich um Munition handelt.

Welche Gefahr geht von solcher Munition aus?

In Kampfmitteln ist immer Sprengstoff enthalten und ein Zünder. Je nach Art des Zünders und dem Fortschritt der Korrosion können äußere Einwirkungen die mechanische Belastung so groß werden lassen, dass es zur Detonation kommt. Kampfmittel sind deshalb immer gefährlich, in der Regel lebensgefährlich. Und alter Sprengstoff ist immer mit Vorsicht zu genießen. Der oberste Leitgedanke ist, dass die Kampfmittel zum Töten hergestellt wurden - und auch heute noch töten können. Das muss man ganz klar sagen.

Was bedeutet das für Ihre Arbeit? Wird es mit der Zeit schwieriger, eine Weltkriegsbombe zu entschärfen?

Die Entschärfung wird schwieriger, weil es im Innern der Bombe zwischen Zündergehäuse und Sprengstoff zu chemischen Veränderungen kommt und bestimmte Kristalle entstehen. Diese sind hoch reibe- und stoßempfindlich, beim Entfernen des Zünders aus der Bombe kann es zu einer ungewollten Detonation kommen. Allerdings hat sich auch die Entschärfungstechnik weiterentwickelt. Vor 30 Jahren wurden Zünder noch mit Hammer, Meißel und Wasserpumpenzange entfernt. Heute benutzen wir in Berlin sogenannte Wasserschneidtechnik. Dabei wird der Zünder maschinell mit einem Wasserstrahl aus dem Bombenkörper herausgeschnitten, ohne dass jemand direkt vor Ort im unmittelbaren Gefahrenbereich sein muss.

Was sind für Sie die gefährlichsten Momente?

Bezogen auf Bomben geht von chemischen Langzeitzündern die größte Gefahr aus. Von außen ist nicht einschätzbar, in welchem Zustand sich solche Bomben und ihre Zünder befinden. Die Alterungsprozesse sind mittlerweile so weit fortgeschritten, dass solche Bomben auch ohne mechanische Einwirkung detonieren können. Das kann theoretisch jeden Moment passieren. Statistisch gesehen gibt es in Deutschland pro Jahr ein bis zwei sogenannte Selbstdetonationen von Bomben mit chemischem Langzeitzünder.

Und das Risiko für Selbstdetonationen steigt mit den Jahren immer weiter?

Ja.

Liegen denn noch viele Bomben mit solchen Langzeitzündern im Boden?

Da gibt es verschiedene Betrachtungsweisen. Eine ist, dass man sagt, die Blindgänger-Quote lag bei zehn Prozent der gesamten Bombenmasse. In Berlin gab es zudem ein Gutachten, das festgestellt hat, dass auf Basis der gefundenen Blindgänger und der bekannten abgeworfenen Mengen die Quote von Langzeitzündern ungefähr bei vier Prozent liegt.

Sie haben die zunehmende Gefahr durch die Blindgänger beschrieben. Welche Rolle spielt bei Ihrer Arbeit als Bombenentschärfer die Angst?

Angst ist ein schlechter Zustand, man sollte aber einen gewissen Respekt haben. Angst ist für mich etwas, bei dem man zu Reaktionen neigt, die man nicht kontrollieren kann. Bei unserer Arbeit müssen wir aber unbedingt unsere Bewegungen und Handlungsabläufe kontrollieren. Deshalb haben wir einen entsprechenden Respekt vor der eigentlichen Sache und gehen damit gewissenhaft um. Gleichzeitig sind wir uns darüber im Klaren, dass eine ungewollte Detonation final ist - wir sind dann praktisch nicht mehr da.

Empfinden Sie Angst, wenn Sie zu einem Einsatz gerufen werden?

Nein, Angst empfinde ich nicht. Ich bin aber zweifelsohne angespannt, denn es sind Extremsituationen. Aber aufgrund unserer langen Erfahrung und der Expertise im Entschärfen von Kampfmitteln können wir dieses Gefahrenmoment gut beherrschen. Unsere Erfolgsquote zeigt auch, dass wir uns, wenn man das so sagen kann, sicher bewegen.

Wie viele Blindgänger liegen denn schätzungsweise in Deutschland noch im Boden?

Die jüngsten Untersuchungen gehen von 100.000 Tonnen aus. Damit ist die Gesamtheit von Kampfmitteln gemeint.

Handelt es sich dabei überwiegend um Bomben?

Aufgrund der Auffindemengen, die wir in Berlin haben, kann man sagen, dass die wenigsten Kampfmittel im Boden Bomben sind. Meist geht es um kleinere und mittlere Kaliber, wie etwa Granaten.

Berlin gehört zu den deutschen Städten, die von den Alliierten am stärksten bombardiert wurden, insbesondere zwischen Herbst 1943 und Frühjahr 1945. Wie viele Bomben werden hier noch im Boden vermutet?

Im Allgemeinen kann noch mit circa 3000 Bomben im Berliner Boden gerechnet werden. Diese Schätzung beruht auf Erkenntnissen zur Menge von abgeworfenen Bomben und den bereits gefundenen Blindgängern. Da gibt es allerdings nicht die eine Zahl, denn gerade in der Kriegszeit und der Nachkriegszeit wurden viele Blindgänger entschärft und beseitigt, ohne dass es darüber Unterlagen gibt. Wir haben eine Zahl: 1239 Blindgänger wurden seit Kriegsende in Berlin entschärft. Aber auch das ist relativ zu betrachten, weil es keine Unterlagen und Zahlen zu den Bomben gibt, die in der DDR entschärft wurden.

Wie viele Kampfmittel wurden denn im vergangenen Jahr gefunden?

2024 haben wir rund 55.000 Kilogramm Kampfmittel in Berlin gefunden. Statistisch gesehen gibt es pro Jahr acht bis zehn Bombenfunde. Aber zufälligerweise im vergangenen Jahr keinen.

Angesichts der fortschreitenden Zersetzung: Was kommt in den nächsten Jahren oder Jahrzehnten auf uns zu?

Die Kampfmittel, die sich noch im Boden befinden, werden sicherlich empfindlicher gegen mechanische Belastungen. Auch die Umweltbelastung wird steigen, weil mehr Sprengstoffe in die Umwelt gespült werden, egal ob in den Boden, in Seen oder ins Meer. Und wir müssen davon ausgehen, dass unsere Arbeit nicht leichter wird, weil die Kampfmittel immer empfindlicher werden.

Kommt irgendwann ein Punkt, an dem die Kampfmittel nicht mehr explosiv sind?

Mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht, weil es immer Bauteile gibt, die durch Bautätigkeiten oder durch Anfassen belastet werden können. Solange Sprengstoff und ein Zündsystem vorhanden sind, besteht immer die Gefahr einer Detonation.

Wie sollte sich jemand verhalten, der möglicherweise Munition entdeckt?

Man sollte die Funde auf gar keinen Fall bewegen oder in irgendeiner Weise berühren. Sobald der kleinste Verdacht auf Kampfmittel besteht, muss man unbedingt die zuständigen Stellen anrufen. In den meisten Bundesländern ist das die Polizei. Dann werden die Experten vom staatlichen Kampfmittelbeseitigungsdienst gerufen und die schätzen ein, ob es ein Kampfmittel ist und welche Art es ist.

Mit Matthias Kotulla sprach Heidi Ulrich

Quelle: ntv.de

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