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Zermürbende Jahre im Kriegsland "Die Nöte der Ukrainer haben unsere Arbeit verändert"

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Rund vier Millionen Menschen in der Ukraine sind Binnenvertriebene. Oft leben sie unter notdürftigen Bedingungen unter prekären Umständen.

Rund vier Millionen Menschen in der Ukraine sind Binnenvertriebene. Oft leben sie unter notdürftigen Bedingungen unter prekären Umständen.

(Foto: picture alliance / AA)

Seit mittlerweile zwei Jahren überzieht Russland die Ukraine mit einem brutalen Angriffskrieg - und stürzt das Land damit auch in eine humanitäre Krise. Rund die Hälfte der Menschen, die noch nicht geflohen sind, benötigen Hilfe. Allerdings haben sich die Bedürfnisse in zwei Jahren Krieg verändert, sagt Christof Johnen, Leiter der Internationalen Zusammenarbeit des Deutschen Roten Kreuzes. Im Gespräch mit ntv.de erklärt er, warum die Hilfsorganisation nicht mehr auf Lebensmittelpakete setzt - und was sich die ukrainischen Helfer von ihren türkischen Kollegen abschauen.

ntv.de: Wie hat sich die Arbeit des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) in der Ukraine in den vergangenen zwei Kriegsjahren verändert?

Christof Johnen: Da vor dem 24. Februar 2022 kaum jemand mit einem derartigen Ausmaß der Eskalation des bewaffneten Konflikts gerechnet hat, brauchte es unmittelbar danach vor allem absolute Soforthilfe. Millionen Menschen mussten plötzlich vor Kampfhandlungen fliehen, die Notsituation war schlicht sehr akut. Nun ist die Fluchtbewegung natürlich nicht mehr so stark wie in den ersten Monaten nach der Eskalation , aber das heißt nicht, dass die Notsituation in der Ukraine kleiner geworden ist, im Gegenteil. Fast die Hälfte aller Menschen, die noch in der Ukraine leben, sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Allerdings sind die Nöte der Ukrainerinnen und Ukrainer nun ganz unterschiedlich, das hat natürlich auch unsere Arbeit verändert.

Inwiefern?

Zum einen braucht es dort, wo es zu Kampfhandlungen kommt, natürlich weiterhin Soforthilfe. Das ist vor allem im Südosten und Osten des Landes dauerhaft der Fall. Zum anderen - und das ist mittlerweile der Großteil unserer Arbeit - geht es nun darum, die Menschen langfristig zu unterstützen. Man darf nicht vergessen: Seit zwei Jahren ist an Alltag kaum zu denken, viele Gewohnheiten sind wegen der Beschränkungen nicht mehr möglich, planbar ist kaum noch etwas. Die vergangenen zwei Jahren waren nicht nur gesundheitlich, sondern auch wirtschaftlich für die meisten enorm zermürbend. Das Ukrainische Rote Kreuz, die Schwestergesellschaft des DRK, hat vor allem in den beiden Bereichen Gesundheit und Sozialwesen Projekte etabliert, um den Menschen das Notwendigste im Alltag zu ermöglichen.

Sie sagten es, der Krieg ist auch gesundheitlich enorm zermürbend. Zu traumatischen Erlebnissen kommt die nicht allgegenwärtige Gefahr durch die russischen Angriffe. Gleichzeitig steht das Gesundheitssystem seit zwei Jahren unter Dauerbelastung. Wie greift das DRK den Menschen in diesem Bereich unter die Arme?

Mit drei großen Blöcken. Zunächst einmal geht es um die einfache Gesundheitsversorgung der Menschen. Damit meine ich nicht einmal große Verletzungen, sondern eher chronische Erkrankungen, Infekte oder die bekannte Welle an Atemwegserkrankungen im Winter. Gerade in ländlichen Gebieten ist die Behandlung alles andere als sicher, vor allem Binnenvertriebene und ältere Menschen haben kaum eine Chance. Das Ukrainische Rote Kreuz hat daher mobile Gesundheitsstationen ins Leben gerufen. Das sind umgebaute Lieferwagen, die mit medizinischen Teams nach einem festen Fahrplan eine Route abfahren und die Menschen versorgen. Der zweite Punkt ist die häusliche Pflege, bei der unsere Kolleginnen und Kollegen Pflegebedürftige zu Hause aufsuchen. Während einige ihre Wohnung nicht mehr verlassen können, trauen sich viele vor allem Ältere wegen der Kampfhandlungen kaum noch aus dem Haus. Der dritte große Block - und der wird häufig unterschätzt - ist die psychosoziale Unterstützung der Menschen.

Wie hilft das Rote Kreuz den Menschen bei der Aufarbeitung der Kriegstraumata?

Mit niederschwelligen Konzepten. Es geht weniger darum, Psychiater oder Psychologen auszubilden oder einzusetzen. Vielmehr qualifizieren wir freiwillige Helferinnen und Helfer, die sozusagen psychosoziale Erste Hilfe leisten. Natürlich werden diese auch darin geschult, zu erkennen, wann eine intensivere Behandlung benötigt wird, aber in erster Linie geht es darum, möglichst viele Menschen zu erreichen und zu betreuen. Man darf nicht vergessen, dass fast alle in der Ukraine Traumata durch den bewaffneten Konflikt haben.

Wie kommen die Ukrainerinnen und Ukrainer mit der psychosozialen Hilfe in Berührung?

Dabei spielt die Tatsache, dass es freiwillige Helferinnen und Helfer sind, die in diesem Bereich tätig sind, eine entscheidende Rolle. Denn im Gegensatz zu Externen kommen sie selbst aus den Dörfern, Gemeinden und Städten - sie sind dort verwurzelt. Damit haben sie einen guten Zugang zu den Menschen vor Ort. Sie treffen sie an verschiedenen Orten, zum Beispiel aufgestellten Wärmestuben und kommen dort einfach ins Gespräch. Ein Vorbild in diesem Bereich finden wir in der Türkei, wo Millionen geflüchteter Syrerinnen und Syrer leben. Der Türkische Rote Halbmond betreibt die psychosoziale Erste Hilfe bereits seit Jahren. Dafür wurden bereits Gemeindezentren errichtet, wo Menschen hinkommen können und psychosoziale Unterstützung erhalten. All diese Erfahrung, die türkische Expertise, wenden wir nun in der Ukraine an.

Nun dauert der Kriegszustand an, die russischen Angriffe auf die Ukraine reißen nicht ab. Man kann sich vorstellen, dass die Menschen kaum Zeit haben, über die Aufarbeitung des Erlebten nachzudenken, bevor sie die nächste verheerende Nachricht ereilt. Wie wird die psychosoziale Unterstützung angenommen?

Unser Eindruck ist, dass die Offenheit mit dem Fortdauern des bewaffneten Konflikts wächst. Es gibt keine Ruhe und keine Erleichterung, vielmehr bauen sich die Traumata aufeinander auf und verhärten sich. Das steigert offenbar die Bereitschaft, darüber zu sprechen. Was die verschiedenen Gruppen betrifft, ist der Zugang zu Kindern mit spielerischen Methoden natürlich etwas leichter als zu Erwachsenen. Allerdings ist die Notwendigkeit unabhängig vom Alter und Geschlecht erkannt worden, das nehmen wir wahr. Dabei spielt die Niedrigschwelligkeit eine wichtige Rolle. Es ist eben nicht so, dass jemand Fremdes in ein Dorf fährt, an den Türen klingelt und psychosoziale Betreuung anbietet, sondern es sind einfache Gespräche. Die Kunst ist es, die Schwelle so niedrig wie möglich zu halten und trotzdem einen Beitrag zur mentalen Gesundheit zu leisten.

Zu den gesundheitlichen kommen die wirtschaftlichen Belastungen nach zwei Jahren Krieg. Können Sie da auch unterstützen?

Es geht vor allem um den Lebensunterhalt, den viele Menschen in der Ukraine nicht mehr bestreiten können. Es gibt allein rund vier Millionen Binnenvertriebe, die ihre Wohnung und ihren Job aufgeben mussten und nun oft unter prekären und notdürftigen Bedingungen leben. Zudem fallen durch den bewaffneten Konflikt viele Arbeitsplätze weg, betroffen sind also auch Menschen, die vielleicht noch in ihrer Heimat leben. Kurzum: Die wirtschaftlichen Ressourcen vieler Menschen sind am Ende. Viele können sich ihren wöchentlichen Einkauf nicht mehr leisten. Für diese Menschen hat das Ukrainische Rote Kreuz ein Programm zur Unterstützung, das über standardisierte Hilfspakete hinausgeht.

Sind Hilfspakete nicht der effektivste Weg, Menschen zu unterstützen, die sich ihren Einkauf nicht leisten können?

Lange Zeit war das der klassische Weg. Mittlerweile weiß man aber, dass das nicht immer der richtige Weg ist. Das hat drei Gründe. Erstens schädigt man die lokalen und durch den Konflikt ohnehin belasteten Märkte eines Landes oder einer Region, wenn man auf lange Zeit Güter hineinbringt. Zweitens stellt sich ohnehin die Frage, wie effektiv es ist, konfektionierte Pakete tausende Kilometer zu fahren, wenn die Märkte vor Ort noch funktionieren. Der dritte Punkt hat vor allem mit Würde zu tun. Man muss sich nur vorstellen, Monat für Monat ein Paket zu bekommen, in dem etwa ein Liter Öl, fünf Kilo Mehl und zwei Kilo Zucker sind. Möglicherweise hat man allerdings ganz andere Bedürfnisse. In der Ukraine erhalten die Menschen daher Geldkarten. Damit können sie nicht nur ihren Lebensunterhalt sichern, sondern auch das kaufen, was sie wirklich benötigen.

Das heißt, die Menschen erhalten eine Art Kreditkarte von der Hilfsorganisation?

In anderen Ländern sind es Karten, auf denen ein bestimmtes Guthaben verbucht ist, mit denen die Menschen generell einkaufen gehen können. Das Ukrainische Rote Kreuz hatte jedoch schon vor Kriegsbeginn Rahmenverträge mit Supermarktketten, die ein besonders großes Filialnetz haben, die es also auch in ländlicheren Gebieten gibt. Die Ukrainerinnen und Ukrainer bekommen also eine Karte mit einem Guthaben, mit dem sie in diesen Supermärkten - egal wo in der Ukraine - einkaufen gehen können. Das senkt die Transaktionskosten und gibt den Menschen vor allem eine gewisse Selbstständigkeit zurück. Nun gibt es bei solchen Karten immer den Vorwurf, die Menschen kaufen nur Alkohol und Zigaretten von dem Guthaben. Allerdings gibt es dafür überhaupt keine Evidenz, im Gegenteil. In der Regel sind die Menschen sehr verantwortungsbewusst und kaufen die Dinge, die sie tatsächlich brauchen.

Wer erhält diese Geldkarte?

Die Empfänger sitzen im ganzen Land. Es geht dabei nach dem Maß der Not. Das heißt, wir wollen gerade nicht sagen, die Karte bekommen nur Ältere oder Familien mit vielen Kindern oder Alleinerziehende, sondern wir versuchen, die Bedürftigkeit ganz individuell festzustellen. Oft sind es Binnenvertriebene, die natürlich kein Einkommen mehr haben und deren Erspartes irgendwann aufgebraucht ist. Auch für Ältere ist es eine große Unterstützung, weil die Renten und Pensionen in der Ukraine nicht besonders hoch sind. Eine Einschränkung liegt allerdings in der Region, in der die Menschen leben. Im Südosten und Osten ist die Verfügbarkeit von Gütern, also Lebensmitteln und Hygieneartikeln oft schwieriger, sodass dort teilweise nur Sachhilfe möglich ist. Im Rest des Landes ist das eigentlich nicht erforderlich.

Zu Kriegsbeginn fielen die Ukrainerinnen und Ukrainer vor allem durch ihr riesiges Engagement auf. Wie sieht nun, nach zwei zermürbenden Jahren, aus?

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Ich maße mir keine Aussage über die ukrainische Gesellschaft an. Allerdings ist ein Freiwilligennetzwerk immer auch ein kleines Abbild der Gesellschaft, da viele verschiedene Menschen zusammenfinden. Da war es unmittelbar nach der Eskalation tatsächlich so, dass sich unglaublich viele Ukrainerinnen und Ukrainer beim Ukrainischen Roten Kreuz engagieren wollten. Tag für Tag kamen Hunderte Menschen dazu. Diese Steigerungsquote gibt es nun natürlich nicht mehr. Trotzdem merken wir, dass es noch immer ein großes Verantwortungsgefühl und einen guten Zusammenhalt in der Gesellschaft gibt. Das Problem sehe ich dafür an anderer Stelle: Das Andauern der Krise. Man darf nicht vergessen, dass die Freiwilligen selbst psychisch belastet sind und sich selbst immer wieder mit schlimmen Situationen auseinandersetzen müssen, während sie kontinuierlich Freiwilligenarbeit leisten. Dazu müssen sie selbst noch ihren Lebensunterhalt verdienen. Je länger diese Krise dauert, desto schwerer wird es, als Freiwilliger zu helfen. Und für dieses Problem gibt es noch keine Lösung.

Mit Christof Johnen sprach Sarah Platz

Quelle: ntv.de

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