Panorama

Bevölkerungsmediziner Bozorgmehr "Gibt Menschen, die eher Bußgeld in Kauf nehmen"

Inzwischen geht Deutschland durch die vierte Welle, weitere sind nicht ausgeschlossen.

Inzwischen geht Deutschland durch die vierte Welle, weitere sind nicht ausgeschlossen.

(Foto: dpa)

Kaum jemand hätte gedacht, dass Deutschland einen weiteren Pandemiewinter erlebt. Ursachen sind ein sehr anpassungsfähiges Virus, aber auch das Impfzögern vieler Menschen und unzureichende politische Maßnahmen. Aus den letzten Monaten ließe sich trotzdem viel lernen, sagt Bevölkerungsmediziner Kayvan Bozorgmehr im Gespräch mit ntv.de.

ntv.de: Wer sind die Menschen, die jetzt noch ungeimpft sind?

Dr. Kayvan Bozorgmehr: Das ist genau das Problem: In Deutschland können wir das nicht sagen. Das ist ein Kardinalfehler darin, wie wir das Corona-Impfsystem aufgebaut haben. Die Impfabdeckung lässt sich nicht kleinräumig monitorisieren. Wir haben die Impfquoten auf Landesebene. Für alles, was wir darüber hinaus beantworten möchten, braucht es letztlich Befragungen. Aber dafür fehlt uns die Zeit. Wir wissen aus anderen Zusammenhängen aber, womit Impfzögerlichkeit zusammenhängt. Es gibt Bildungsfaktoren, sprachliche und religiöse Aspekte. Es gibt aber auch einen Bereich, der sehr stark mit Vertrauen zusammenhängt, in das Gesundheitssystem, aber auch in staatliche Strukturen. Und es gibt diese komplette Impfskepsis, die mit Verschwörungstheorien zu tun hat. Was jetzt gerade überwiegt, kann niemand sagen. Es ist sehr komplex.

Wie meinen Sie das?

Sowohl die Pandemie als auch die Impfstoffe sind noch relativ neu, es gibt bei vielen Fragen und Unsicherheiten. Man kann natürlich sagen, alle Informationen wurden kommuniziert. Aber die Frage ist doch: Haben wir alle erreicht? Und da würde ich sagen, Deutschland hat ein Gesundheitssystem, das in der Regel nicht alle erreicht. Viele schauen keine Regierungspressekonferenzen an und nicht alle Menschen haben einen Hausarzt. Die bekommen davon nichts mit. Und da ist die Frage: Wie können wir die erreichen, auch im Gespräch? Was man aus der überschaubaren wissenschaftlichen Literatur zum Thema Überwinden von Impfskepsis weiß, ist, dass es am besten im Dialog gelingt.

Ist die deutsche Informationskampagne zum Impfen nicht gut gemacht worden?

Das würde ich so allgemein nicht sagen. Wir brauchen verschiedene Kanäle. Dort, wo Maßnahmen sehr intensiv verfolgt wurden, stadtteilbezogen, sozialraumbezogen, dort gibt es hohe Impfquoten. So war es in Bremen. Wenn jetzt andere sagen, so haben wir es auch gemacht, dann muss man sehen: Dort war es punktuell so, aber nicht in der Fläche und nicht in einem Maße, dass es ausreichend war.

Was ist wichtiger bei einer Impfung? Würde der Selbstschutz oder der Schutz der Allgemeinheit Menschen eher überzeugen?

Ein Beitrag zum Allgemeinwohl überzeugt vielleicht nicht alle. Es ist sicher die Mischung, aber dazu sind mir keine wissenschaftlichen Erhebungen bekannt. Aber es steht natürlich die Frage: Welche Argumente würden Menschen vom Impfen überzeugen? Dabei ist der eigene Nutzen sicher stark zu bewerten. Dabei schließt sich die Frage an: Was ist mir mit Impfung möglich oder welche Restriktionen habe ich ohne Impfung im Alltag?

Wir haben verschiedene Ansätze erlebt, emotionale Appelle, finanzielle Argumente, jetzt Erschwernisse für Ungeimpfte. Wird das die Impfzögerer erreichen oder noch widerspenstiger machen?

Es wird ein harter Kern bleiben, den man selbst am Ende mit einer Impfpflicht nur schwer erreicht. Wir kennen ähnliche Diskussionen aus der Masernimpfpflicht. Es gibt sicher Menschen, die dann am Ende eher die Bußgelder in Kauf nehmen, statt sich impfen zu lassen. Aber die Kombination aller Maßnahmen wird sicher Wirkung entfalten, vor allem, wenn man sich die Gesamtsituation noch einmal vor Augen führt. Dass es eben nicht ausreicht, sich auf andere zu verlassen. Vielleicht haben sich doch mehr Menschen als angenommen gedacht, es werden sich schon genug impfen lassen und ich warte erstmal ab. Und jetzt sieht man: Das reicht nicht. Eine Impfpflicht in bestimmten Berufsbereichen ist dann eben eine weitere Maßnahme, um die Virusausbreitung im öffentlichen Raum zu verhindern.

Wie schätzen Sie die Pläne der neuen Bundesregierung ein, einen Corona-Krisenstab einzurichten?

Das ist überfällig. Es ist auf eine gewisse Weise unverständlich, warum wir das erst nach zwei Jahren Pandemie bekommen.

Was ändert sich dann an der Herangehensweise?

Das hängt am Ende von der Umsetzung ab. Aber wir haben jetzt in den verschiedenen Situationen gemerkt, wie herausfordernd es ist, in einem föderalen System schnell und effektiv auf sich verändernde Lagen zu reagieren. Man hat an den Ministerpräsidentenkonferenzen gesehen, dass das häufig nicht gelungen ist. Die Maßnahmen wurden nicht oder anders umgesetzt. Das hat dazu geführt, dass Deutschland oft zu spät reagiert hat.

Sie legen derzeit eine Datenbank an, um zu erforschen, welche Pandemiemaßnahmen die meiste Wirkung entfalten. Haben Sie daraus bereits Erkenntnisse?

Professor Dr. Kayvan Bozorgmehr

Der Bevölkerungsmediziner und sein Team von der Fakultät für Gesundheitswissenschaften an der Universität Bielefeld untersuchen die Auswirkung politischer Maßnahmen auf die Pandemie. Das von ihm geleitete Projekt "Covid19 Pandemic Policy Monitor" baut eine Datenbank zu den Eindämmungs-Maßnahmen und ihren zeitlichen Abfolgen auf.

Wir sind dabei, die Daten der vorangegangenen Wellen zu analysieren. Aber wir können noch keine Ergebnisse kommunizieren, weil das Fachkollegen noch begutachten müssen. Wir haben trotzdem alle aus dem bisherigen Verlauf bereits gesehen, was etwas bringt. Es geht darum, schnell und stringent zu reagieren. Die Lockdowns light und das tröpfchenweise Nachjustieren hat am Ende nur einen zähen Prozess mit sich gebracht. Kontaktreduktionen wirken, auch das wissen wir. Wo und wie man sie umsetzt, ist eine andere Frage. Aber die Summe der verschiedenen Maßnahmen hat natürlich einen Effekt.

Läuft es am Ende wieder auf einen Lockdown hinaus?

Ich glaube, wir brauchen sehr rasch Kontaktreduzierungen. Wir sollten uns auch fragen, ob wir uns Großveranstaltungen gerade leisten können. Die Lehre aus den letzten Monaten ist aber auch, dass man Schulschließungen vermeiden sollte. Denn es hat sich gezeigt, dass das zum Infektionsgeschehen wenig beiträgt. Es finden dort zwar Infektionen statt, aber das hat vor allem damit zu tun, dass dort die ungeimpften Populationen sind. Bei einer insgesamt hohen Inzidenz zeigt sich das dann auch in den Einrichtungen.

Hat die deutsche Gesundheitsfürsorge in der Pandemie versagt?

Das Gesundheitssystem ist stark und funktionsfähig. Aber es hat natürlich Schwächen, die auch allesamt vor der Pandemie bekannt waren. Wir haben ein schwaches bevölkerungsmedizinisches System. Das beinhaltet auch die Möglichkeit, zeitnah repräsentative kleinräumige Daten zu erheben. Bislang wurde das immer als akademisches Problem gesehen, aber jetzt fällt es uns auf die Füße. Das beginnt bei den Meldeverzügen der Infektionen und endet damit, dass wir nicht wissen, wo die ungeimpfte Bevölkerung ist. Wir merken das erst, wenn es hochkocht und nicht nur bei Corona, sondern auch bei anderen Infektionskrankheiten. Ausbaufähig ist auch die föderale Komponente, besonders dort, wo es darum geht, Einheitlichkeit gegenüber einer Gesundheitsherausforderung herzustellen. Dem Virus ist das Bundesland egal und da ist es nicht nachvollziehbar, warum es in einem Bundesland keine Maskenpflicht in der Schule gibt und in dem anderen schon. Daran müssen wir arbeiten.

Was können wir jetzt mitten in der vierten Welle noch tun?

Die Leopoldina hat eigentlich alles zusammengetragen. Worüber man meiner Meinung nach streiten kann: ob Kontaktreduktionen für alle gelten sollen oder müssen. Ich glaube nicht, dass Großveranstaltungen aktuell sinnvoll sind. Ich stehe auch präventiven Schulschließungen, also dem Vorziehen der Ferien, kritisch gegenüber. Wenn man die Ferien vorzieht, aber die Menschen auf den Weihnachtsmarkt gehen, ist nichts gewonnen. Sinnvoller wäre es, dafür zu sorgen, dass die Schulen sicher betrieben werden können. Wichtig ist, die anderen Maßnahmen auszuschöpfen.

Mit Kayvan Bozorgmehr sprach Solveig Bach

Quelle: ntv.de

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