Unbürokratische Hilfe Pkw packen und ab Richtung Ukraine?
03.03.2022, 18:03 Uhr
Viele Menschen wollen direkt helfen -es ist einfacher, als man denkt.
(Foto: picture alliance / PIXSELL)
Es gehe darum, den fliehenden Menschen direkt an der Grenze zu helfen und sie dann weiter "in alle europäischen Länder" zu bringen, sagte Annalena Baerbock angesichts der humanitären Krise, die an den Grenzen der Ukraine droht. Wir werden alle aufnehmen, fügte sie hinzu. Wie sie an den Grenzen der Ukraine helfen können, das wollen momentan viele Menschen wissen. Deswegen brechen ständig Transporter und Lkw, aber auch Privat-Pkw auf, um mit Hilfsgütern an die Grenzen zu fahren und den Menschen vor Ort direkt zu helfen. Um dann in den leeren Transportmitteln Menschen mit in die Sicherheit zu nehmen. Was jetzt vor allem zählt, ist ein langer Atem, weiß Frank G. aus Berlin, der einen Transporter voller Hilfsgüter gen Osten fährt. Die Studentinnen Lena und Sarah sind bereits zurück von der ukrainischen Grenze. Mit ihnen spricht ntv.de über den unbedingten Willen, Menschen in größter Not zu helfen.
ntv.de: Was treibt Sie an, in die Grenzgebiete zu fahren?
Frank G.: Mein Motto ist: "Für jede Bombe, die Putins Regime wirft, werden 1000 Herzen antworten."
Lena und Sarah: Wir haben mitbekommen, dass sich Leute organisieren, und wollten auch was machen. Haben uns dann mit Freunden vernetzt, die selber Leute in der Ukraine kennen und sie abholen wollten. Natürlich ist in Europa und auf der Welt schon lange Krieg, aber die Ukraine-Situation ist einfach krass und macht uns sprachlos und schockiert. Gegen diese Ohnmacht wollten wir etwas unternehmen. Vor allem wollten wir nicht nur Gelaber, sondern Action.
Ist es sinnvoll, an die Grenzen zu fahren mit Bussen und LKWs voller Klamotten und Dinge?
L&S: Kommt drauf an. Die großen Organisationen sagen eher Nein. Wir haben immer wieder davon gehört, dass davor gewarnt wird, alleine zu fahren. Aber von Leuten an beiden Seiten der Grenzen und in den Camps bekommt man immer wieder Hilferufe, auch an Privatpersonen. Deswegen sind wir los. Es bringt allerdings überhaupt nichts, wenn man einfach losfährt, ohne sich zu organisieren oder mit Leuten vor Ort zu connecten. Wir sind auch nicht nach Polen, sondern an die Grenze der Slowakei gefahren. Wichtig ist, nur das zu bringen, was gebraucht und gefragt wird, nur gut sortierte und beschriftete Kisten. Und dann, ganz wichtig, sich selbst einschätzen können, wenn man Leute zurücktransportiert. Man muss sich über Visa, Registrierung, Unterkunft, ärztliche und psychische Versorgung, Geld und alles andere kümmern! Es gibt viel zu beachten.
F.G.: Ich denke, Medikamente sind natürlich wichtig und technische Hilfsgüter wie Stromgeneratoren. Aber bei unserer ersten Fahrt zeigte sich auch, dass jemand sehr glücklich war, einfach einen Rucksack zu haben. Deshalb sollte man diese Sachen in strategisch wichtige, sprich sichere Plätze wie U-Bahn-Stationen bringen. Rennen Sie Mal zwei Wochen in den gleichen Klamotten rum. Die Spendenbereitschaft ist immer am Anfang eines Konflikts sehr hoch.
L&S: Wir haben lange überlegt, ob wir gerade nur unser Helfer-Syndrom ausleben wollen oder ob es wirklich was bringt, da hinzufahren. Über private Gruppen haben wir ein paar Ukrainer*innen in Berlin erreicht, die uns geholfen haben, und ein paar Personen an der Grenze gefunden, die Sachen rübertransportieren. Mit denen haben wir das koordiniert. Wir haben das alles innerhalb eines Tages auf die Beine gestellt.
Wie sieht die aus, die Spendenbereitschaft?
F.G. Viele Leute können erstmal "nur" Klamotten geben, aber das ist eben ihr Zeichen von Solidarität, und diesen Unterstützungswillen sollte man auf keinen Fall abwürgen. Für komplexere Güter würde ich mir mehr Kontakte zur Regierung wünschen, die uns bei der Beschaffung berät und unterstützt. Denn was uns ausmacht im Gegensatz zur Regierung: Wir agieren sofort, erlernen schnell alles, was wir gebrauchen können, wissen aber nicht, was andere bereits machen oder wie effektiv deren Hilfe ist.
L&S: Wir haben noch ein "fund me" initiiert und mittlerweile echt viel zusammen.
Werden Ihnen die Hilfsgüter von Organisationen vor Ort abgenommen oder von den Leuten direkt? Ist die Hilfe koordiniert oder chaotisch?
F.G.: Das ist die Kunst: Dass Hilfe simpel genug ist und jeder helfen kann, dass sie aber im Prozess dann so geordnet wird, dass diese Hilfe dann auch wirklich dort ankommt, wo sie hin soll. Und seien es die erwähnten Klamotten. Wir arbeiten dafür beispielsweise daran, ein grenznahes Lager zu finden, damit Leute ihre Fuhren zentral dahin bringen können. Damit man die Sachen dann sofort holen kann und beispielsweise nach Odessa bringen kann, weil sie dort am Dringendsten gebraucht werden. Der Krieg ist gerade mal eine Woche alt, aber es gilt, langfristig zu planen. Das wird helfen.
L&S: Wir treffen an der Grenze Kontaktpersonen und laden die Sachen da aus. Die fahren das dann über die Grenze. Es ist ein koordiniertes Chaos hier. Alle sind gestresst und die ganze Zeit auf Achse. Aber es funktioniert, und es ist krass, wie man so etwas so schnell auf die Beine stellen kann.
Wie ergeht es Ihnen unterwegs?
L&S: Ganz gut. Wir fahren zu sechst mit drei Autos. Die Fahrt ist echt lange, wir haben nicht viel geschlafen und stehen unter Strom. Irgendwann gab es Probleme mit unserem Transporter, das haben wir dann so halb geregelt und mussten langsamer fahren. Viel länger fahren hätten wir nicht geschafft, waren von fünf Uhr morgens bis halb zwölf nachts unterwegs. Wir haben noch ein extra Zimmer in einem Motel bei der Grenze bekommen, kurz den Morgen geplant und dann sind wir alle todmüde ins Bett gefallen.
F.G.: Es ist hochgradig emotional, man sollte nicht zu viel darüber nachdenken.
Haben Sie auch mal Angst?
F.G.: Nein. Denn bis zur Grenze ist es total sicher, das ist, als ob man in den Urlaub innerhalb Europas fahren würde. Das Schlimmste, was ich unterwegs erlebt habe, war eine 62 Kilometer lange Autobahnbaustelle.
L&S: Ja, wir stehen so unter Strom, dass wir erst als wir das erste Mal die Grenze gesehen haben, emotional begriffen haben, was hier eigentlich abgeht. Es ist ein Mix: Freudentränen, dass wir jetzt zwei Familien im Auto haben und wir so viele medizinische Hilfsmittel liefern könnten, aber es ist auch echt krasse Trauer und Verzweiflung und Anstrengung.
Wie sieht es mit der Hilfsbereitschaft aus?
F.G.: Die ist sehr groß, aber komischerweise mit viel unsichtbarer Scham verbunden. Und es werden wieder nur Fotos in den sozialen Medien geteilt, die entweder Belangloses zeigen oder verängstigende Kriegsbilder. Viel besser wäre es, wenn die Menschen ihre Solidarität stolz zeigen würden. Und wenn dokumentiert werden würde, wie wichtig die Hilfe ist, wenn sie ankommt und wie sie verteilt wird. Daran arbeiten wir gerade, das aufzubauen und das zu kultivieren. Denn dann, hoffe ich zumindest, bleibt die Hilfsbereitschaft auch langfristig da. Wir alle wollen, dass die Hilfe maximal ankommt - und nicht nur zehn Prozent davon.
L&S: Alle sind sehr hilfsbereit!
Wie ist die Situation vor Ort?
F.G.: Wir treffen erstmal tatsächlich auf Bürokratie. An dem Grenzübergang, an dem ich meine Sachen abgegeben hatte, musste ich vier Stunden warten, bis ich endlich - sehr freundliche - Leute des Roten Kreuzes gefunden hatte, die dann einen Herren fanden, der einen Transporter hatte und das Vertrauen der Grenzschützer auf beiden Seiten, so dass dieser die Sachen dann direkt mit einem ukrainischen Transporter nach Lwiw senden wollten. Das Wichtigste ist, dass wir das alles fotografisch dokumentieren, auch dort, wo die Sachen verteilt werden - so können wir in den für uns alle noch unbekannten dortigen Netzwerken Vertrauen schaffen. Bei so einer Gelegenheit haben wir einen total hilfsbereiten Porsche-Cayenne-Fahrer kennengelernt, der fährt jetzt mit sechs Leuten zurück und will am Samstag wieder hinfahren.
L&S: Wir kamen nachts an, es war relativ still, haben zwei Volunteers getroffen und den Transporter ausgeladen. Wenn man nicht Multitasking-fähig ist, dann funktioniert das nicht. Man ist fast immer nebenbei am Telefonieren mit Leuten, die wir mitnehmen sollen, Leuten, die Infos wollen, selber nach Infos fragen ...
Was macht das mit Ihnen?
L&S: Wissen wir noch nicht. Es ist erstmal so schön, zu wissen, dass wir das auf die Beine stellen konnten mit einem geilen Team. Und zu begreifen, dass es eben auch wirklich geht, so etwas in die Tat umzusetzen. Aber psychisch wird das bestimmt noch reinhauen. Jetzt, wo wir so langsam einen Moment zum Entspannen haben, merkt man, wie die Emotionen und die Erschöpfung hochkommen. Gerade fahren wir an einem Skigebiet vorbei, wo die Leute Urlaub machen und Spaß haben. Im Kontrast dazu haben wir eine Familie bei uns, die heute morgen über die Grenze gekommen ist und erst seitdem sie mit uns im Auto sitzt, weiß, wo ihre Reise überhaupt hingeht. Das sind Frauen, die ihren Männern und Freunden "Auf Wiedersehen" gesagt haben, die gerade im Krieg kämpfen. Wenn man mal eine Sekunde auf Instagram ist und Storys von Leuten sieht, die Urlaub machen, kommt die Wut hoch und Frustration. Es ist so absurd und unbegreiflich.
Was sind die größten Hindernisse beim Hilfeleisten?
F.G.: Ich glaube, das größte Problem der Helfer, das man langfristig in einem Krieg bekommt, ist, wenn man die Güte und die Hilfsbereitschaft nicht anerkennt. Und vielleicht sollten die, die soziale Medien bis jetzt für sinnlos gehalten haben, verstehen, dass sie doch sinnvoll sind. Soziale Medien können eine sehr starke Waffe sein im Krieg gegen die Propaganda von Putin.
Was wird gebraucht?
F.G.: Medikamente, Stromgeneratoren, Kettensägen, schusssichere Westen, Thermodecken, Schlafsäcke, Powerbanks, Verbandszeug - vor allem das kritische Zeug, das Blutungen stoppt - und vieles mehr.
L&S: Koordination! Es ist unglaublich, was da abgeht. Leute warten 15 Stunden draußen in der Kälte, um über die Grenze zu kommen. Man hört schlimme Stories über POC-Menschen. Es ist gut, dass die großen Organisationen wie Mission Lifeline da unterstützen, aber es reicht bei Weitem nicht. Und es werden immer mehr Menschen kommen. Die Regierungen müssen da sofort handeln.
Und was braucht ihr für die nächste Fahrt?
L&S: Erst mal überlegen, wie und ob wir das nochmal machen und ob es gebraucht wird. Wir hatten auch einfach verdammt viel Glück mit dieser Aktion. Sonst brauchen wir wieder Autos, Übersetzung und Spenden, Medizin. Die Situation ändert sich stündlich, und man muss jeden Tag aufs Neue einschätzen.
Nehmt ihr Personen mit zurück?
F.G.: Natürlich! So viele, wie in jedes Fahrzeug passen!
S&L: Ja, zwei Familien.
Wo bringen wir die Personen, die Sie mitnehmen, unter?
F.G.: In Berlin verteilen wir sie erstmal unter unseren Freunden oder bringen sie zu den vorgesehenen Stellen.
S&L: Wir haben Zimmer für diese Personen in unserem Familien- und Bekanntenkreis organisiert und werden uns die nächsten Wochen und Monate um sie kümmern.
Wie oft wollen Sie hin- und herfahren?
S&L: Ich könnte mir vorstellen, das einmal alle zwei Wochen oder sogar öfter zu machen, wenn wir uns stärker vernetzen und merken, dass es wirklich gut ist, als Privatperson zu fahren. Allerdings haben wir auch gerade Klausuren und Prüfungsphase und müssen eigentlich Hausarbeiten schreiben, also alles nicht so einfach.
F.G.: Das kommt auf die Hilfsbereitschaft der Menschen an: Wenn unser Lager voll ist, dann fahren wir wieder. Unsere Schwierigkeit besteht darin, dass wir vor Ort Hilfe brauchen, die die Sachen effektiv in der Ukraine verteilen. Da fehlen uns noch Leute.
Mit Frank G., Lena und Sarah sprach Sabine Oelmann
Quelle: ntv.de