Zwischen Träumen und Erwartungen Warum es nicht nur einen richtigen Platz im Leben gibt
09.06.2024, 15:55 Uhr
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In der Vorstellung, jederzeit abbiegen zu dürfen, liegt innere Freiheit.
(Foto: IMAGO/Wolfgang Kofler)
Ob Job, Beziehung oder Wohnort: Das Leben ist eine Abfolge von Entscheidungen. Doch was, wenn man gar nicht so genau weiß, was man eigentlich will? Psychotherapeutin Antonia Speerforck ermutigt dazu, sich selbst besser kennenzulernen und sich nicht an starre Lebensentwürfe zu klammern.
Kein Mensch kommt an der Frage vorbei, was er mit seinem Leben anfangen, welchen Platz er oder sie einnehmen will. Ein Haus bauen, einen Baum pflanzen, ein Kind zeugen oder gebären - das sind klare Lebensaufträge. Aber was, wenn die Hausbaupreise gerade ins Unrealistische steigen, man lieber Blumen als Bäume mag und überhaupt keinen Kinderwunsch hat?
"Unsere Vorstellungen sind von dem beeinflusst, was alle anderen haben und es gibt zusätzlich viele gesellschaftliche Erwartungen, wie der eigene Platz auszusehen hat", sagt Antonia Speerforck im Gespräch mit ntv.de. Die Diplom-Psychologin, Diplom-Juristin und frühere BWL-Studentin hat ein Buch zu dem Thema geschrieben.
"Wo ist mein Platz im Leben?", diese Frage hat auch die 37-Jährige lange umgetrieben. "Viele Menschen fühlen sich nicht so frei darin, Ideen über ihren eigenen Platz zu entwickeln, wie sie gern wären." Zumal die von außen vorgegebenen Kriterien nahezu unerschöpflich und sogar widersprüchlich sein können. Sie umfassen Familienbilder, eine bestimmte Art von Beruf und auch Einkommen. "Nach wie vor wird man auf Partys gefragt: Was machst du so?, weil das so identitätsstiftend ist und so sehr dafür steht, ob man seinen Platz gefunden hat."
Ankommen ist eine Illusion
Speerforck arbeitet als systemische Psychotherapeutin in Leipzig und hat immer wieder Klientinnen und Klienten, die darunter leiden, "überhaupt keine Ahnung zu haben, was sie mit ihrem Leben machen sollen". Während andere schon drei Kinder oder geheiratet haben, leben sie selbst vielleicht noch in einer WG oder fangen gerade die dritte Ausbildung an.
Hinter diesem Leiden steht manchmal eine Annahme, die viele Menschen haben, schreibt Speerforck in ihrem Buch: Erst wenn wir alles getan haben, alle Normen erfüllt haben, alles gut und richtig, am besten perfekt gemacht haben, haben wir Glück und Zuneigung verdient. Erst dann kann es gut werden. Doch dieses Wenn-dann-Denken sei wenig hilfreich. Zum einen gebe es im Laufe des Lebens immer wieder "Phasen des Wachstums, des Zweifelns und des Lernens", wie die Psychologin es beschreibt. Zum anderen gebe es in uns oft Stimmen, denen wir folgen, auch wenn wir gleichzeitig Lust haben, etwas ganz anderes zu machen: "Geh auf Nummer sicher! oder: Jammer nicht!", fordern diese Stimmen etwa von uns.
Oft sind es eher schlichte Sätze, die allerdings große Wirkung entfalten. Häufig fußen sie auf familiären Regelsystemen, die wir von unseren Eltern und diese oft schon von ihren Eltern oder sogar Großeltern übernommen haben und die lange oft auch hilfreich waren, um durchzukommen. Trotzdem können diese Regeln in eine falsche Richtung führen. "Wenn wir einem Weg starr folgen, dann laufen wir Gefahr, andere Bedürfnisse, die wir auch haben, einfach zu übergehen."
Sich immer weiter entwickeln
In dieser Situation findet sich aus Sicht der Familientherapeutin häufig die jüngere Generation wieder. Das könne man bei der Generation Z beobachten, die derzeit ihren Platz in der Gesellschaft und auch im Leben einnimmt. Häufig hörten die Gen Z-ler dann: "Mit euch ist nichts anzufangen!" Darin stecke oft der Vorwurf, es anders zu machen, als die ältere Generation es von ihnen erwarte. "Da sagen die Jüngeren durchaus selbstbewusst: Das hat vielleicht für euch funktioniert. Wir möchten uns aber nicht mehr ständig Druck machen lassen. Wir möchten es anders machen, andere Prioritäten setzen." Damit stellten sie die Aufträge der Älteren infrage, aber auch deren Lebensentscheidungen.
Speerforck versteht das Generationenbashing nicht und versucht den Blick eher auf die lebenslangen Entwicklungs- oder Entscheidungsmöglichkeiten zu lenken. "Es ist immer die Aufgabe der Jüngeren, die Maßstäbe der Älteren auch zu hinterfragen und weiterzuentwickeln." Die Älteren reagierten mit Entgegnungen, denen häufig etwas Beschämendes anhafte. "Das erinnert mich an ein bisschen überkommene Erziehungsmethoden, bei denen ich mich frage, was sie bewirken sollen." Wenn Motivation das Ziel sei, seien Beschämung und Druck keine geeigneten Mittel.
Speerforck ermutigt lieber Menschen jeden Alters, nicht nach dem einen Platz im Leben zu streben, sondern sich zu fragen: "Was ist der nächste Platz, an dem ich gerne sein würde? Welchen Anteilen und Bedürfnissen will ich mehr Raum geben?" Dafür helfe es, sich mit allen inneren Anteilen vertraut zu machen, auch denen, die man auf den ersten Blick nicht so hilfreich findet - selbst wenn man sich vermutlich nie ganz kennen wird. "Wir lernen uns ja vor allen Dingen auf dem Weg kennen." So könne es nach Ansicht der Psychotherapeutin hilfreich sein, "den inneren, oft eher als diffus wahrgenommenen Stimmen mal aufmerksam zuzuhören. Anteile werden so spielerisch richtige Persönlichkeiten, mit einem Aussehen, Eigenarten, einem Namen."
Beinahe jeder Mensch habe beispielsweise einen inneren Perfektionisten. "Das ist jemand, der einem sagt, dass man es nur perfekt ausreichend und richtig ist." Dieser Perfektionist hat nicht immer den besten Ruf, viele Menschen mögen diesen Anteil von sich nicht. Gleichzeitig gibt es für den Perfektionisten viel gesellschaftliche Anerkennung. Speerforck verweist aber darauf, dass auch dieser Anteil, der bei dem einen den Namen eines früheren Lehrers tragen könnte und bei dem anderen vielleicht Peitsche heißt, eine Aufgabe im inneren Gefüge hat. Dabei helfe die Frage: Was willst du für mich? Beim Perfektionisten könnte es beispielsweise darum gehen, Ablehnung zu verhindern oder für Sicherheit zu sorgen.
Aber auch ein Persönlichkeitsmerkmal wie Schüchternheit, das viele bei sich ablehnten, weil extrovertierte und kontaktfreudige Menschen als sympathischer gelten, könne wichtige Funktionen haben. Bei Schüchternheit könnte es beispielsweise die Fähigkeit sein, ein Problem erst in Ruhe zu durchdenken und sich dann zu Wort zu melden. Bei anderen weniger positiv wahrgenommenen Eigenschaften wie Ängstlichkeit oder Albernheit fürchteten viele Menschen, dass sie sich in unpassenden Momenten zu Wort melden, meint Speerforck. Das führe dazu, dass sie "sozusagen in die hinterste Schublade unserer Seele verbannt werden". Dabei wünscht die Psychologin jedem Menschen auch Verspieltheit und Leichtigkeit, und selbst Angst erfülle wichtige Aufgaben für uns.
Innere Erkundung macht frei
"Menschen mögen vor allem die Persönlichkeitsanteile an sich, die irgendwann einmal Bestätigung gefunden haben, für die sie liebgehabt oder gelobt wurden." Dementsprechend würden oft innerlich die abgewertet, "die auch früher eher Abwertung erfahren haben". Dabei stünden hinter jeder unserer Facetten Bedürfnisse und Fähigkeiten und es mache Sinn, möglichst viele davon zu Wort kommen zu lassen.
Wie bei Speerforck selbst kann diese Erkundung dazu führen, dass man an ganz unerwarteten Plätzen landet, und immer wieder neuen. Als Tochter eines Künstlers und einer Therapeutin mit Erfahrungen von finanzieller Unsicherheit in der Familiengeschichte begann sie zunächst BWL zu studieren, wechselte dann auf Jura, um nach dem Abschluss noch Psychologie zu studieren. Inzwischen ist die zweifache Mutter verheiratet und nicht nur Therapeutin, sondern bildet auch aus und schreibt Bücher.
Ihr Platz ist nicht der eine Ort, Job oder Partner, sondern vor allem all die kleinen Schritte, Entscheidungen und auch Kurven im Leben. "Im Moment finde ich mein Leben super", sagt sie. "Aber es wird und soll sich verändern." Natürlich sei nicht jeder Aspekt ihres Lebens perfekt, "aber ich habe trotzdem das Gefühl, ich bin auf einem guten Weg."
Quelle: ntv.de
