Panorama

Frauen in Frankreich gestochen Spritzenattacken zielen auf die Psyche

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In zahlreichen Städten Frankreichs feierten Menschen die Fête de la Musique, wie hier in Paris.

In zahlreichen Städten Frankreichs feierten Menschen die Fête de la Musique, wie hier in Paris.

(Foto: picture alliance/dpa/MAXPPP)

In Frankreich werden am Wochenende Dutzende Frauen mit Nadeln oder Spritzen gestochen. Ob dabei auch Drogen injiziert wurden, ist unklar, doch allein die psychologische Wirkung ist immens. Und genau darum geht es den Tätern.

Noch gibt es nach der Serie von Spritzenattacken auf zumeist junge Frauen in Frankreich mehr offene Fragen als Antworten. 145 Angriffe bei der Fête de la Musique am vergangenen Wochenende hat das Innenministerium dokumentiert. Den Taten in Paris, Metz, Rouen und weiteren Städten fielen vor allem junge Frauen zwischen 14 und 20 Jahren zum Opfer. Auch die 14 bislang festgenommenen Tatverdächtigen sind mit 19 bis 44 Jahren zum Teil noch jung.

Die Polizei ermittelt wegen gefährlicher Körperverletzung. In den sozialen Medien soll es zuvor gezielte Aufrufe zu den Taten gegeben haben. Feministische Instagram-Accounts hatten Tage vor dem Festival davor gewarnt, dass Männer mit Spritzen auf Frauen losgehen könnten. Die französischen Behörden sprechen nun von einer neuen Form der Gewalt gegen Frauen - mit dem Ziel, Angst zu erzeugen.

"Kein Ort der Sorglosigkeit"

Auch der Autor Félix Lemaître geht davon aus, dass die Täter Panik unter Frauen verbreiten wollten. "Es geht darum, Frauen klarzumachen, dass der öffentliche Raum kein Ort der Sorglosigkeit ist", sagte Lemaître der Zeitung "Liberation". Er hat sich in seinem Buch "Die Nacht der Männer" mit dem Phänomen beschäftigt.

Laut Lemaître steckt eine neue Form der Maskulinität dahinter, die eine männliche Überlegenheit gegenüber Frauen propagiert. Immer mehr Männer kämen mit solchen Thesen in Berührung, vor allem über das Internet. Dort werden dem Autor zufolge Tipps zur Gewalt gegen Frauen ausgetauscht, darunter auch Angriffe mit Spritzen.

Als Beispiel nennt er den im vergangenen Jahr publik gewordenen Fall eines "Vergewaltiger-Netzwerks" auf Telegram. In diversen Chatgruppen hatten sich Zehntausende Nutzer über den sexuellen Missbrauch von Frauen verständigt, bis hin zu Anleitungen zur Vergewaltigung.

Stiche mit Spritzen und scharfen Gegenständen

Bei dem landesweit gefeierten Musikfestival am Wochenende erfolgten die Angriffe der französischen Zeitung "Le Parisien" zufolge mit Spritzen, aber auch mit Nadeln. In Abbeville etwa entfernte ein Sanitäter eine Nadel aus dem Arm einer Frau. Ein Angriff erfolgte laut der Zeitung mit einem Zahnstocher.

Die Stiche gingen zumeist in das Gesäß oder einen Arm. Zwar klagten einige Betroffene über Unwohlsein, laut Polizei befand sich aber niemand in Lebensgefahr. Bei einigen Frauen wurden bei der Untersuchung keine Einstichspuren gefunden. "Es scheint, dass es auch Fehlalarme gibt", sagte ein Sprecher des Innenministeriums.

Angaben zu den Ergebnissen der toxikologischen Untersuchungen machten die Behörden bislang nicht. Somit ist weiter unklar, ob die Spritzen Drogen oder gefährliche Substanzen enthielten. Denkbar sind etwa Wirkstoffe wie GHB oder GBL, die als Drogen konsumiert werden, allerdings auch als K.-o.-Tropfen bekannt sind. Täter mischen sie meist heimlich in Getränke, um die wehrlosen Opfer danach sexuell zu missbrauchen oder auszurauben. Das Vorgehen wird auch als "Drink Spiking" bezeichnet, während die Täter beim "Needle Spiking" eine Nadel verwenden.

Wirkung auf die Psyche

Doch auch wenn die Spritzen gar keinen Wirkstoff enthalten, habe das trotzdem einen erheblichen Effekt auf die Opfer, so Lemaître. "Wenn man gespritzt wird, fragt man sich, ob man krank wird. Man muss auf die Testergebnisse warten und das hat echte psychologische Nachwirkungen."

Bei derartigen Einstichen ist die Gefahr einer Infektion mit Hepatitis B, Hepatitis C oder HIV grundsätzlich gering. Éric Henry von der Gewerkschaft Alliance Police Nationale sprach dennoch von einem hohen gesundheitlichen Risiko. "Die Spritzen gingen von Hand zu Hand. Sie wurden unter den Angreifern weitergereicht." Um ein größeres Netzwerk soll es sich ersten Erkenntnissen zufolge aber nicht handeln.

Berichte über "Needle Spiking" kamen vermehrt im Jahr 2022 auf. Damals erstatteten in Spanien Dutzende Frauen Anzeige, nachdem sie auf Musikfestivals oder in Bars und Tanzclubs attackiert wurden und in Folge über Übelkeit, Kopfschmerzen und Schwindel klagten. Attacken mit Nadeln oder Spritzen auf Festivals und in Clubs hatte es 2021 zunächst in Großbritannien gegeben. Ab Anfang des Sommers wurden auch in Frankreich Hunderte Fälle gemeldet. Auch aus Deutschland gab es zu dieser Zeit Berichte über Fälle von Spritzenattacken.

Lemaître zufolge wurden bei den damaligen Fällen in Frankreich keine Substanzen im Körper der Betroffenen gefunden. "Die meisten Symptome waren auf die Substanzen zurückzuführen, die die Betroffenen selbst konsumiert hatten - Drogen oder Alkohol. Doch die Injektionen destabilisieren, lösen Angstzustände und manchmal auch Horrortrips aus, wenn man Drogen genommen hat." Ferner sei nicht auszuschließen, dass manche Spritzen mit Substanzen versetzt waren. GHB etwa sei nur für eine sehr kurze Zeit im Blut nachweisbar.

Sexuelles Motiv oft nicht erkennbar

Eine Untersuchung des "Zentralinstituts der Spitäler für medizinisches Fachpersonal" aus der Schweiz spricht bei "Needle Spiking" von einem komplexen Phänomen, das weiter erforscht werden müsse. Anders als beim "Drink Spiking" sei bei den Nadelattacken häufig kein klar sexuelles Motiv zu erkennen. "Auch wenn in den meisten gemeldeten Fällen keine Toxine im Organismus nachgewiesen werden und bei gegen Hepatitis B geimpften Personen kein signifikantes Risiko besteht, sind die psychologischen Folgen für die Opfer nicht zu unterschätzen", schreiben die Autoren. Wichtig seien geeignete Präventionsmaßnahmen an Veranstaltungsorten.

Die Awarness Akademie der Berliner Clubkommission rät dazu, bei plötzlichem Unwohlsein möglichst ruhig zu bleiben und Freunde, umstehende Personen oder das Clubpersonal zu kontaktieren. Im Notfall sollten Betroffene nicht zögern, den Notruf zu kontaktieren - und das medizinische Personal auch über etwaigen Substanzkonsum zu informieren. Zudem sollten Betroffene eine toxikologische Untersuchung vornehmen lassen. In Frankreich gibt es inzwischen eine App, über die potenzielle Nadelstiche gemeldet werden können. Das Projekt bietet auch psychologische Unterstützung an.

Quelle: ntv.de, mit dpa

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