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Paris prescht, Berlin hinkt Warum sich Deutschland bei Abtreibungen an 1993 klammert

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Immer wieder gibt es Proteste für und Debatten um die Abschaffung von Paragraf 218. Durchsetzen konnten sich die Befürworter einer Entkriminalisierung von Abtreibungen bisher nicht.

Immer wieder gibt es Proteste für und Debatten um die Abschaffung von Paragraf 218. Durchsetzen konnten sich die Befürworter einer Entkriminalisierung von Abtreibungen bisher nicht.

(Foto: picture alliance/dpa)

Während Frankreich über eine weitere Liberalisierung im Abtreibungsrecht jubelt, umweht Frauen hierzulande noch immer ein Hauch der Kriminalität, wenn sie ihre Schwangerschaft auf eigenen Wunsch beenden. Der Grund: eine 30 Jahre alte Entscheidung, an der es offenbar kein Vorbeikommen gibt.

Geht es um das Selbstbestimmungsrecht von Frauen, liegen zwischen Deutschland und seinem Nachbarland Frankreich Welten. Während Französinnen seit fast 50 Jahren legal und kostenfrei abtreiben können, stehen Frauen in Deutschland dabei noch heute mit einem Bein in der Kriminalität. Am Montag zog Paris die Gräben noch tiefer: In Frankreich sind Abtreibungen künftig nicht nur legal, sondern auch verfassungsrechtlich garantiert. Die Entscheidung im Kongress fiel mit überwältigender Mehrheit - quer durch das sonst so auseinanderklaffende Parteienspektrum. Hierzulande sorgt derweil schon jede Überlegung, Schwangerschaftsabbrüche aus dem Bereich des Strafbaren zu zerren, für Empörung in breiten Teilen von Politik und Gesellschaft.

Warum unterscheidet sich Deutschland in puncto Selbstbestimmungsrecht der Frau so grundlegend von Freund, Nachbar und EU-Partner Frankreich? Und kann, möglicherweise muss, der historische Schritt aus Paris ein Anstoß für Berlin sein?

Wegweisend für den Umgang mit Abtreibungen war sowohl in Frankreich als auch in der BRD das Jahr 1975. Damals wurden Schwangerschaftsabbrüche in Frankreich bis zur zehnten Woche mit dem sogenannten Veil-Gesetz entkriminalisiert, mittlerweile können Frauen bis zur 14. Woche legal abtreiben.

In der BRD verlief die Entwicklung des Abtreibungsrechts im gleichen Jahr völlig konträr: Das Bundesverfassungsgericht kippte einen Liberalisierungsversuch der Willy-Brandt-Regierung und stellte fest, dass das Grundgesetz den Staat zum Schutz des ungeborenen Lebens verpflichte. 1993 wiederholten die obersten Richterinnen und Richter diese Auffassung. In dieser zweiten wegweisenden Entscheidung wurden sie sogar noch deutlicher: Schwangere hätten eine Austragungspflicht. Abbrüche könnten nur in wenigen Ausnahmen rechtmäßig sein. Ein grundsätzliches Verbot von Abtreibungen, so hieß es, müsse daher bestehen bleiben.

Karlsruhe ließ Berlin kaum Spielraum

Damit ließ das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber kaum Spielraum. Wie eng diese Vorgaben sind, zeige auch ein Vergleich mit den USA, erklärt Céline Feldmann vom Deutschen Juristinnenbund im Gespräch mit ntv.de. So sorgte die Entscheidung des Supreme Courts, das bundesweite Recht zum Schwangerschaftsabbruch zu kippen, weltweit für Kritik. Die konkrete Ausgestaltung der Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch blieb jedoch auch nach der Entscheidung bei den US-Bundesstaaten. "Damit ist selbst diese Entscheidung des Supreme Courts weniger restriktiv als die damaligen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts von 1975 und 1993."

Aus heutiger Sicht sei auch die kurz geratene Abwägung zwischen dem Schutz des ungeborenen Lebens auf der einen und den Rechten der Schwangeren auf der anderen Seite kritisch zu sehen, fährt Feldmann fort. Das Gericht habe die Rechte der schwangeren Personen zwar erkannt, ihnen aber nicht die notwendige Bedeutung beigemessen. "Das müsste heutzutage anders beurteilt werden", sagt Feldmann. "Im Gegensatz zu damals sind reproduktive Rechte heute international sowie national anerkannt."

Damit haben sich die Grundlagen der damaligen Entscheidung geändert - die Gesetze allerdings nicht. Noch heute gelten die strengen Regelungen, zu denen das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber damals verpflichtete. Das heißt: Frauen machen sich gemäß Paragraf 218 des Strafgesetzbuches grundsätzlich strafbar, wenn sie abtreiben. Nicht rechtswidrig sind Abbrüche nur in wenigen Fällen, etwa nach einer Vergewaltigung oder bei ernsthafter Gefahr für die Schwangere. Abseits dieser Ausnahmen bleiben Abtreibungen rechtswidrig. Allerdings drückt das Gesetz bis zur 14. Schwangerschaftswoche gewissermaßen ein Auge zu - es gewährt den Schwangeren Straffreiheit. Das setzt jedoch zwingend voraus, dass sich die Frauen bei einer anerkannten Stelle beraten lassen und danach eine dreitägige "Überlegungsfrist" einhalten.

Frankreich als Vorbild?

Nun sind Gesetze nicht in Stein gemeißelt. Frankreich hat etwa die Supreme-Court-Entscheidung aus den USA zum Anlass genommen, die eigene Verfassung zu ändern und die Selbstbestimmungsrechte von Frauen mit einer "garantierten Freiheit zur Abtreibung" zu stärken. Die französischen Entwicklungen könnten nun wiederum ein Anreiz für Deutschland sein. So lobte Familienministerin Lisa Paus die Verankerung des Abtreibungsrechts in der Verfassung gegenüber der dpa als "einzigartigen Schritt". Dass Selbiges für Deutschland aktuell nicht infrage zu kommen scheint, ließ die Ministerin allerdings auch durchblicken: Die verfassungsrechtliche Situation sei hierzulande "grundsätzlich eine andere als in Frankreich". Was genau die Grünen-Politikerin damit meinte, erklärte sie nicht.

So wäre es durchaus auch in Deutschland möglich, das Recht zum Schwangerschaftsabbruch im Grundgesetz zu verankern, erklärt Feldmann. Allerdings sei dies gar nicht notwendig. Die Rechtsprechung leite den Verfassungsrang des reproduktiven Selbstbestimmungsrechts schon jetzt aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und der Menschenwürde ab. Zudem würde Deutschland einen deutlich wichtigeren Schritt überspringen: die Entkriminalisierung. "Denn das eigentliche Problem ist doch", so Feldmann, "dass Schwangerschaftsabbrüche hierzulande noch immer strafrechtliches Unrecht darstellen."

Doch genau da liegt seit Jahren der Zündstoff. Auch die aktuelle Regierung ist sich nicht einig: Während SPD und Grüne für die Abschaffung von Paragraf 218 plädieren, stemmt sich die FDP dagegen. Unterstützt werden die Liberalen von der größten Oppositionspartei. Laut der Union sei schon die Abschaffung des Werbeverbots, nach dem Ärzte nicht einmal über Schwangerschaftsabbrüche informieren durften, ein Fehler gewesen. Nun das Abtreibungsverbot selbst zu kippen, würde zur "Spaltung der Gesellschaft führen". Tatsächlich sprach sich die knappe Mehrheit der Bevölkerung laut einer Umfrage aus dem vergangenen Jahr gegen die Abschaffung des Verbots aus. Somit unterscheidet sich offensichtlich nicht nur die politische, sondern auch die gesellschaftliche Stimmung deutlich von jener in Frankreich. Laut Umfragen unterstützten 86 Prozent der Französinnen und Franzosen die jüngste Liberalisierung von Abtreibungen.

Juristinnen für "abgestuften Lebensschutz"

Gegner der Entkriminalisierung hierzulande argumentieren vor allem mit der Gerichtsentscheidung von 1993. Abtreibungen aus dem Strafgesetzbuch zu streichen, würde die Vorgaben der damaligen Richter zum Schutz des ungeborenen Lebens verletzen, heißt es etwa aus der Union. Das Verbot zu kippen, wäre damit ein eindeutiger Verfassungsverstoß. Befürworter der Entkriminalisierung betonen hingegen vor allem die gewachsene Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts in den vergangenen 30 Jahren, die auch das Bundesverfassungsgericht in anderen Entscheidungen bereits anerkannte. "Damit braucht es auch eine neue Abwägung der kollidierenden Grundrechte durch den Gesetzgeber", sagt Feldmann.

Dieser Abwägung stehe der Schutz des ungeborenen Lebens auch nicht im Wege. So sei es selbstverständlich ein zu schützendes Rechtsgut - "allerdings überwiegt es die Rechte der Schwangeren nicht automatisch". Der Juristinnenbund geht von einem abgestuften Lebensschutz aus. "Die Rechtsposition des Fötus wächst mit seiner Entwicklung", erklärt Feldmann. In anderen Worten: Je näher die Geburt rückt, desto intensiver muss der Schutz ausfallen. Im Umkehrschluss könne das ungeborene Leben bis zur Geburt durchaus mit gegenläufigen Interessen abgewogen werden.

Juristische Pingeligkeit?

Die FDP stellt vor allem die Notwendigkeit der Entkriminalisierung infrage. Immerhin können Frauen unter genannten Voraussetzungen ja schon heute abtreiben, ohne eine Bestrafung befürchten zu müssen. Vor diesem Hintergrund scheint der Unterschied zwischen Straffreiheit und Rechtmäßigkeit wie juristische Pingeligkeit. "So einfach ist es aber eben gerade nicht", wendet Feldmann ein. Denn die Kriminalisierung, ob straffrei oder nicht, habe eine Reihe von Konsequenzen.

"Vor allem die Stigmatisierung, die unweigerlich durch die Verbindung mit dem Strafrecht kommt, ist ein Problem." Das führe nicht nur zu Vorurteilen gegenüber den Schwangeren, sondern auch zu einer großen Verunsicherung unter Ärztinnen und Ärzten. Gerade auf dem Land, wo jede jeden kennt, lehnen viele Praxen einen Schwangerschaftsabbruch im Zweifel lieber ab. "Wir schauen immer kritisch auf die defizitäre Versorgungslage in den USA", sagt Feldmann. "Dabei müssen Schwangere im Bayern teilweise 100 Kilometer fahren, um einen Abbruch vornehmen zu lassen." Tatsächlich hat sich die Zahl der Einrichtungen, die Abbrüche durchführen, laut Daten des Statistischen Bundesamtes zwischen 2003 und 2021 fast halbiert.

Zudem sei die finanzielle Belastung ein großes Problem. Denn im Gegensatz zu Ländern wie den Niederlanden, Kanada oder eben Frankreich übernehmen die Krankenkassen in Deutschland in der Regel keine Kosten für Schwangerschaftsabbrüche nach der Beratungslösung. Auch das hatte das Bundesverfassungsgericht 1993 vorgeschrieben. Damit müssen die ungewollt Schwangeren laut der Organisation "Pro Familia" zwischen 350 und 600 Euro aus eigener Tasche zahlen, wenn sie sich für einen Abbruch entscheiden.

Kommission prüft Entkriminalisierung

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Zuletzt stellt sich die Frage, ob das Abtreibungsrecht im Strafgesetzbuch überhaupt richtig aufgehoben ist. So gilt das Strafrecht im Rechtsstaat grundsätzlich als ultima ratio, also als letztes Mittel, wenn das betroffene Rechtsgut nicht anders zu schützen ist. Gerade diese Möglichkeit sehen Befürworter der Entkriminalisierung jedoch gegeben. Möglich wäre demnach etwa eine Fristenlösung im Schwangerschaftskonfliktgesetz.

Eine Regelung von Schwangerschaftsabbrüchen außerhalb des Strafrechts - eine Entkriminalisierung - genau diese Möglichkeit prüft eine von der Regierung eingesetzte Kommission derzeit. Ergebnisse soll es bereits im April geben. Allerdings ist Deutschland seinem Nachbarland in puncto Selbstbestimmungsrecht von Frauen damit noch keineswegs auf den Fersen. So ist das Ergebnis der Kommission nicht bindend, die Gräben innerhalb der Ampel sind nicht überwunden. Und selbst wenn Berlin sich auf eine Entkriminalisierung einigen würde, dürfte Karlsruhe bereits mit den Hufen scharren.

Quelle: ntv.de

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