Information oder Werbung? Wenn die Bundeswehr in die Schule kommt


Hauptmann Czarnitzki ist seit sieben Jahren Jugendoffizier.
(Foto: Marc Dimpfel)
Auf Einladung halten Jugendoffiziere der Bundeswehr Vorträge an Schulen. Das Bildungsministerium begrüßt das, Gewerkschaften äußern Kritik. Was wird den Jugendlichen da vermittelt? Ein Besuch im Klassenraum.
Zur Frage, ob die Bundeswehr Auslandseinsätze durchführen sollte, gibt es im Klassenzimmer ein klares Stimmungsbild. Hauptmann Jan Czarnitzki steht in blauer Uniform vor 20 Neunt- und Zehntklässlern. Der Jugendoffizier leitet die siebte und achte Stunde an der Nelson-Mandela-Schule in Berlin-Wilmersdorf. "Sollte sich Deutschland militärisch engagieren?", steht auf dem Smartboard. Die Schülerinnen und Schüler verteilen sich auf die vier Raumecken, je nachdem, ob sie ganz oder bedingt dafür oder dagegen sind. Fast alle sind in Teilen dafür, nur zwei Schüler lehnen ab: "Deutschland sollte keinen Krieg supporten", sagt einer. Nach kurzer Überlegung schiebt er hinterher: "Aber wenn ein Land in Not ist, sollte man auch helfen."

Der Hauptmann erklärt: "Volk wählt Bundestag, Bundestag entsendet Bundeswehr, Bundeswehr schützt Volk."
(Foto: Marc Dimpfel)
"Kann Gewalt eine Lösung sein, um Konflikte zu beenden?", fragt Czarnitzki, und die Jugendlichen wuseln erneut durch die Klasse. "Man sollte es immer erst ohne Gewalt probieren. Aber manchmal geht es nicht anders", sagt ein Schüler. "Wenn du auf dem Schulhof geschlagen wirst und nur sagst 'hör auf', dann schlägt der andere einfach weiter", sagt ein anderer. Der Soldat weist darauf hin, dass Konfliktursachen oftmals komplex sind: "Es kann niemals nur militärische Lösungen geben."
Die Bundeswehr beschäftigt 94 Jugendoffiziere, speziell ausgebildete Soldaten, die auf Einladung Präsentationen und Seminare über Sicherheitspolitik halten. Hauptmann Czarnitzki macht den Job seit sieben Jahren. Ein Großteil der Vorträge findet an Schulen statt, doch theoretisch könne auch ein Kleingartenverein anfragen, sagt er im Gespräch mit ntv.de. Im vergangenen Jahr seien er und seine beiden Berliner Kollegen insgesamt etwa 150-mal im Einsatz gewesen. Bundesweit waren es nach Angaben des Verteidigungsministeriums im Jahr 2022 rund 4300 Vorträge, Tendenz steigend.
Ministerin will "unverkrampftes Verhältnis"
Im Bildungsministerium begrüßt man diese Einsätze. Ministerin Bettina Stark-Watzinger rief die Schulen zuletzt dazu auf, ein "unverkrampftes Verhältnis" zur Bundeswehr zu entwickeln und schloss Jugendoffiziere ausdrücklich mit ein. "Ich halte es für wichtig, dass Jugendoffiziere in die Schulen kommen und berichten, was die Bundeswehr für unsere Sicherheit tut", sagte sie den Funke-Zeitungen. Vorbehalte diesbezüglich könne sie "nicht nachvollziehen".
Die Lehrergewerkschaft VBE entgegnete, es sei nicht die Aufgabe von Soldaten, Kinder über "aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen" aufzuklären, sondern die von geschulten Pädagogen. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) fordert auf ihrer Website sogar, den "Einfluss der Bundeswehr an Schulen" zurückzudrängen. "Die GEW lehnt Werbeversuche der Bundeswehr an Schulen und anderen Bildungseinrichtungen ab und verurteilt sie." Für die notorisch mit Nachwuchsproblemen kämpfende Truppe sei die Schule kein Ort zur "Rekrutierung von Berufssoldatinnen und -soldaten".
"Wir als Jugendoffiziere dürfen und können gar nicht werben. Ich würde dann ein Dienstvergehen begehen", sagt Hauptmann Czarnitzki. Vielmehr komme die Bundeswehr ihrer behördlichen Informationspflicht nach. Dabei halte sie sich an den Beutelsbacher Konsens von 1958. Dieser definiert Grundsätze für die politische Bildungsarbeit. Den Schülerinnen und Schülern darf demnach keine Meinung aufgezwungen werden. Themen müssen kontrovers diskutiert werden, sodass sich jede und jeder eine eigene Meinung bilden kann.
Den Jugendoffizier an die Nelson-Mandela-Schule eingeladen hat Bruno Osuch, er unterrichtet Gesellschaftskunde und Mathematik. Bei einigen "pazifistisch eingestellten" Kollegen habe die Einladung für Unmut gesorgt, witzelt er zur Begrüßung. "Die waren skeptisch, ob da indoktriniert wird."
Eine Doppelstunde Bundeswehr
Thema der heutigen Doppelstunde: "Entwicklung der deutschen Sicherheitspolitik bis zur Zeitenwende". Einer von mehreren Vorträgen im Repertoire der Jugendoffiziere, auf Anfrage können auch Ukraine-Krieg oder Nahost-Konflikt behandelt werden. Im Klassenzimmer hängen physische Landkarten von Deutschland und Europa an einer Pinnwand, darunter gelb-blaue Sticker: "Stop Putin Stop War", "#Stand with Ukraine". Die Schülerinnen und Schüler erheben sich zum einstimmigen "Guten Morgen", ein paar Jungs salutieren kichernd.
Auf die einleitende Gruppendiskussion folgt ein historischer Abriss. Der Hauptmann setzt im Jahr 1955 an, als sich die junge Bundesrepublik inmitten des Kalten Krieges zur Wiederbewaffnung entschied. "Zur Verteidigung", betont Czarnitzki mit Verweis auf den entsprechenden Grundgesetzartikel. Die nächste Folie zeigt die in mehrere Staaten zerfallene Sowjetunion. "Dann hatten wir plötzlich eine neue Welt und die Bedrohungslage war verschwunden."
Czarnitzki fragt bekannte "Systeme der kollektiven Sicherheit" ab, in denen Deutschland Mitglied ist, wie NATO, UN und EU. Die damit einhergehende Verantwortung wird auf dem Smartboard veranschaulicht durch die brennenden Türme des World Trade Centers. Czarnitzki skizziert die durch den Terroranschlag ausgelöste Kettenreaktion: NATO-Bündnisfall, Bundestags-Resolution, deutsche Kriegsbeteiligung in Afghanistan.
Auch wenn "manche Aspekte geklappt haben" sei der Afghanistan-Einsatz "in einer Katastrophe" geendet, sagt der Hauptmann mit Blick auf die Machtübernahme der Taliban 2021 und den chaotischen Abzug der westlichen Truppen. Die Schülerinnen und Schüler hören aufmerksam zu, manch einer schielt zwischendurch auf das Smartphone.
Jugendoffizier mit Auslandserfahrung
Czarnitzki war vor zehn Jahren selbst als Soldat in Afghanistan und hat dort für drei Monate Fluglotsen ausgebildet. Für den 39-Jährigen sei es die belastendste und zugleich eindrücklichste Zeit seiner Bundeswehr-Laufbahn gewesen, die gleich nach dem Abitur begann. Auf den Grundwehrdienst folgte die Offiziersausbildung, 2017 wurde er schließlich Jugendoffizier, "aus dem Interesse heraus, sicherheitspolitische Inhalte verständlich zu vermitteln", wie er im Gespräch sagt.
Im Klassenraum wird nun Geopolitik vermittelt, die Schülerinnen und Schüler sollen Gründe nennen, warum es auf der Welt zu Konflikten kommt. Czarnitzki präsentiert ihnen den Stabile States Index, der die Stabilität einzelner Staaten anhand diverser Faktoren bewertet. Außerdem stellt er vor, wo die Bundeswehr überall Amtshilfe geleistet hat: Corona-Pandemie, Ahrtal-Flut, Vermisstensuche. Die Verteidigung der Bundesrepublik, so klingt es durch, scheint im Laufe der Friedensjahrzehnte eher in den Hintergrund gerückt zu sein.
Der Hauptmann leitet zur Zeitenwende über und damit zu den Themen, die seit Ausbruch des Ukraine-Kriegs die gesellschaftliche Debatte dominieren. Eine Liste weist aus, welches NATO-Mitglied das Zwei-Prozent-Ziel erfüllt und welches nicht. Grafiken veranschaulichen die kollektive Abrüstung der NATO-Staaten. Die Schülerinnen und Schüler lernen: Deutschland und andere Verbündete haben ihre Truppenstärke innerhalb von 30 Jahren mehr als halbiert.
"Die Weltlage ist gefährlich"
In der Bundeswehr mangele es an allem, erläutert Czarnitzki. Das Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro ermögliche es zwar, dringend benötigtes Material zu besorgen, aber auch das müsse erstmal hergestellt werden. Er zitiert die Wehrbeauftragte des Bundes, Eva Högl, die sagt, eigentlich brauche es 300 Milliarden. "Da gibt es unterschiedliche Meinungen zu, schließlich fehlt in vielen Bereichen Geld." Seine Meinung: "Die Bundeswehr ist unsere Lebensversicherung. Wenn es drauf ankommt, sollte das einigermaßen funktionieren." Ob man damit nicht andere Länder provoziere, hakt ein Schüler nach. "Die Weltlage ist gefährlich. Wir können nicht sagen: 'Wir gucken mal, was kommt'", antwortet der Soldat.
In der Abschlussrunde wird gefragt, was man an der Hochschule der Bundeswehr denn studieren könne. Darüber dürfe er nicht informieren, sagt Czarnitzki und verweist auf die Karriereberatung. Ob der Jugendoffizier empfehlen würde, zur Bundeswehr zu gehen? "Das würde ich mir gut überlegen. Im Ernstfall geht es um Leben und Tod." Gefällt es ihm denn? "Sonst wäre ich nicht hier. Das ist aber meine persönliche Erfahrung. Andere mochten es nicht oder waren enttäuscht."
Nach über zwei Stunden Vortrag verabschiedet sich der Jugendoffizier wieder, Lehrer Osuch geht mit der Klasse noch Eis essen. Die Vorbehalte im Kollegium seien unberechtigt gewesen, resümiert er. "Indoktriniert wurde da überhaupt nicht, das war sehr objektiv." Seiner Meinung nach hätte das ein Lehrer in dieser Form nicht machen können. "Es ist schon was anderes, wenn da einer in Uniform steht, der den Laden von innen kennt."
Die 15-jährige Laila sagt im Anschluss, der Vortrag sei spannend gewesen, dennoch liege das Militär ihr fern. "Ich könnte niemals eine Waffe in der Hand halten." Ihre gleichaltrige Klassenkameradin Thalia sagt, sie habe viel Neues gelernt. "Ich dachte immer, es gibt da sonst nichts zu tun außer Krieg." Ob sie später selbst einmal zur Bundeswehr gehen würde? "Ich kann es mir nach dem Vortrag schon vorstellen", antwortet die Neuntklässlerin.
Quelle: ntv.de