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​Erinnern zwischen allen Fronten Wie heutige Konflikte das Gedenken in Auschwitz überschatten

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Für die Gedenkzeremonie am 27. Januar 2025 wird das Lagertor in Auschwitz-Birkenau in ein Zelt gehüllt.

Für die Gedenkzeremonie am 27. Januar 2025 wird das Lagertor in Auschwitz-Birkenau in ein Zelt gehüllt.

(Foto: Rebecca Wegmann)

Auschwitz ist in der Welt bekannt als Ort der schrecklichsten NS-Verbrechen. Die Gedenkstätte des ehemaligen Vernichtungslagers möchte Menschen über die Geschichte aufklären, damit so etwas nie wieder passiert. Doch als Folge der Kriege in der Ukraine und in Gaza steht sie zwischen allen Fronten.

888 Kilometer liegen zwischen der ukrainischen Hauptstadt Kiew und der polnischen Stadt Auschwitz. Elf Stunden Autofahrt trennen die osteuropäischen Städte. Und rund 3200 Kilometer liegen zwischen dem Gaza-Streifen und Auschwitz. Trotz dieser geografischen Distanz sind der russische Angriffskrieg in der Ukraine und der Krieg zwischen Israel und der Hamas in der Arbeit der Gedenkstätte "Museum and Memorial Auschwitz-Birkenau" in Polen allgegenwärtig.

Am 27. Januar 2025 jährt sich die Befreiung des ehemaligen nationalsozialistischen Lagerkomplexes Auschwitz zum 80. Mal. Zu der Jubiläums-Gedenkfeier für die Opfer der NS-Verbrechen sind Diplomaten und Überlebende geladen. Doch die zwei militärischen Konflikte überschatten dieses Ereignis: Die Erinnerungsarbeit an die Opfer der NS-Verbrechen steht zwischen allen Fronten.

Auschwitz, Russland und die Ukraine

Am 27. Januar 1945 befreiten sowjetische Soldaten der 322. Infanteriedivision der 60. Armee der Ersten Ukrainischen Front ungefähr 7000 zurückgelassene Häftlinge im Lagerkomplex Auschwitz. "Fast 41 Prozent der Soldaten dieser Brigaden der Sowjetarmee waren Russen und fast 40 Prozent waren Ukrainer", sagt der Leiter der Gedenkstätte, Piotr Cywinski, ntv.de. "Wir befinden uns also in der Situation, dass ein Befreier einen anderen Befreier angreift", sagt er.

Heute gehören Russland und die Ukraine zu den Ländern, in denen noch mehrere Tausend Überlebende leben. In den ersten Monaten nach Russlands Angriff auf die Ukraine flüchteten 400 Holocaust-Überlebende aus der Ukraine nach Deutschland. Andere blieben in der umkämpften Ukraine. Immer wieder sind sie unter den Todesopfern des Ukraine-Krieges. Während der Belagerung der Stadt Mariupol kam die 91-jährige Holocaust-Überlebende Wanda Semjonowna Obiedkowa am 4. April 2022 ums Leben.

Als Folge des russischen Angriffskriegs in der Ukraine nahmen im Jahr 2023 erstmals keine Vertreter aus Russland an der Gedenkfeier am 27. Januar teil. Eigentlich hält sich die Gedenkstätte nach eigenen Angaben aus Konflikten heraus. Aber die Konflikte der Gegenwart 80 Jahre nach den Verbrechen wirken sich in solchem Maße auf die Erinnerungsarbeit der Institution aus, dass der Leiter der Gedenkstätte nun klar öffentlich Stellung bezieht - vor allem, wenn es um den Jahrestag der Befreiung des Lagers geht: "Wir gedenken der Opfer, aber wir feiern auch die Freiheit. Es ist schwer vorstellbar, dass Russland anwesend ist, das den Wert der Freiheit eindeutig nicht versteht. Eine solche Anwesenheit wäre zynisch. Ich würde mir wünschen, dass dies eines Tages wieder möglich ist." Dieses Statement wiederholte Cywinski öffentlich und postete es auch auf den Kanälen der Gedenkstätte in den sozialen Medien.

Die Einladungen für die 80. Jubiläumsfeier sind lange verschickt: Nach eigenen Angaben hat die Gedenkstätte Informationen über die Jubiläumsveranstaltung an die Botschaften der Mitgliedstaaten der Europäischen Union und an Länder gesendet, die ein besonderes Interesse daran bekundet haben, die Erinnerung an Auschwitz zu bewahren. "Es wurde jedoch beschlossen, diese Informationen nicht an die russische Delegation zu senden", sagt Pawel Sawicki, Pressesprecher der Gedenkstätte, auf Anfrage von ntv.de. An dem besonderen Gedenken in Auschwitz werden zum dritten Mal in Folge keine russischen Vertreter teilnehmen. Auch ein anderer Konflikt wirft einen Schatten auf das Gedenken.

Auschwitz und die Folgen des 7. Oktober

"Der Angriff der Hamas hat unsere Arbeit beeinflusst. Unter den Geiseln befanden sich auch Freunde von uns, daher war es auch auf persönlicher Ebene sehr schwierig", sagt Cywinski. "Es gab nur wenige Momente während meiner Zeit als Direktor der Gedenkstätte, in denen wir ein klares politisches Statement abgeben mussten. Und diese Situation war eine davon." Zentrale Forderung der Gedenkstätte ist, dass die Geiseln freigelassen werden.

Eigentlich sollte das Gelände des ehemaligen Lagerkomplexes in Auschwitz und in Birkenau ein Ort des Erinnerns sein. Die Gedenkstätte will die historische Authentizität des Ortes für zukünftige Generationen bewahren. Doch vor Ort auf dem Gelände des ehemaligen Lagers störten in den vergangenen Monaten propalästinensische Proteste Gedenkaktionen wie den "Marsch der Lebenden".

Israelis können nicht nach Polen reisen

Die Staatsgründung Israels und der Nahost-Konflikt sind unmittelbare Folgen des Holocaust. Laut einer Studie der Conference on Jewish Material Claims Against Germany lebten 2023 119.300 Holocaust-Überlebende in Israel. Das entspricht 48,8 Prozent aller heute noch lebenden Holocaust-Überlebenden. Israelische Überlebende und ihre Nachkommen gehören heute zu den häufigsten Besuchern der Gedenkstätte - eigentlich.

Seit dem 7. Oktober wirkt sich jedoch die Sicherheitslage in Israel und im Gazastreifen der Gedenkstätte zufolge auf die Zahl israelischer Besucher aus. In den Monaten nach dem Terrorangriff der Hamas gab es laut der Gedenkstätte immer wieder Momente, in denen Israelis nicht nach Polen reisen konnten. Die Folgen zeichnen sich im Rückgang der israelischen Besucherzahlen ab: 2023 besuchten insgesamt 1,67 Millionen Menschen die Gedenkstätte. Mindestens 18.700 Besucher kamen aus Israel - vom Oktober bis Dezember 2023 besuchten allerdings nur 400 Menschen aus Israel Auschwitz.

2024 lag die Zahl der Besucherinnen und Besucher aus Israel nach Angaben der Gedenkstätte bei mindestens 13.100. Insgesamt kamen im vergangenen Jahr 1,83 Millionen Menschen in die Gedenkstätten. Die Besucherzahl hat jedoch noch nicht wieder das Vor-Pandemie-Niveau von mehr als zwei Millionen Besuchern erreicht. Auch dies führt die Gedenkstätte auf Faktoren wie die russische Invasion in der Ukraine und den Konflikt im Nahen Osten zurück.

Ein letztes Mal den Überlebenden zuhören

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Ziel der Gedenkstätte ist, die Erinnerung an die Opfer wachzuhalten. Doch die Konfliktparteien versuchen, den Gedenkort zu instrumentalisieren. Darunter leidet die Erinnerungsarbeit der Gedenkstätte. "Wir werden nicht zulassen, dass der Jahrestag der Befreiung zu einem politischen Ereignis wird", sagt Cywinski. Im Mittelpunkt der Gedenkfeier am 27. Januar 2025 sollen allein die Überlebenden stehen. "Sie werden während der Gedenkveranstaltung die Wichtigsten sein", so der Leiter der Gedenkstätte. "Die Politiker werden sitzen und den Überlebenden zuhören."

Zwischen 40 und 60 Überlebende werden an dem Jubiläum am 27. Januar teilnehmen. "80 Jahre nach meiner Befreiung nach Auschwitz zurückzukehren, wird nicht einfach sein", sagt Michael Bornstein, ein Überlebender von Auschwitz. "Dies wird die letzte derartige Gedenkfeier sein. Wir werden da sein. Wirst du bei uns sein?"

Quelle: ntv.de

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