Parlamentswahl unter Vorgaben Ägypter wählen aus dem Einheitsbrei
17.10.2015, 13:04 Uhr
Wahlplakate in der Stadt Minya. Nur Kandidaten, die loyal zum Präsidenten stehen, haben eine Chance.
(Foto: imago/Xinhua)
Das wichtigste Parteienbündnis heißt "Für die Liebe Ägyptens". Nicht einmal jeder Zweite Ägypter wird wohl zur Parlamentswahl gehen, doch darin lesen Analysten die Abwesenheit von Konfrontation und damit Zufriedenheit. Ägypten unter General Sisi ist ein absurdes Land.
Wenn Ägypten wählt, ist das nicht wie bei einer Bundestagswahl, wo an einem Tag alle Willigen ins Wahllokal gehen und am Abend ein Ergebnis weitgehend feststeht. An diesem Samstag beginnt eine wochenlange Abstimmung, deren Ergebnis offiziell erst Ende des Jahres feststehen soll. In Wirklichkeit ist es aber jetzt schon bekannt: Welche von den 5000 Kandidaten auch immer am Ende die 600 Sitze im Parlament belegen werden, sie werden mehrheitlich Präsident Abdel Fattah al-Sisi gewogen sein und ihm helfen, seine Machtstellung auszubauen.
Das Land ist zwar mit Wahlplakaten vollgehängt, doch das heißt noch lange nicht, dass auch echter Wahlkampf herrscht. "Es gibt keinen Wettbewerb, denn die meisten Kandidaten wetteifern darum, ihre Unterstützung für und Loyalität zu Präsident Sisi zu zeigen", sagte der Politikwissenschaftler Mostafa Kamel el-Sayed der ägyptischen Traditionszeitung "Al-Ahram". Sein Kollege Hazem Hosni sagte der Agentur AFP, die Parlamentswahl verleihe Ägypten lediglich eine "demokratische Fassade". Denn seit dem Militärputsch im Sommer 2013 ist Ägypten - je nach Perspektive - von Islamisten an der Macht befreit, irgendwie stabiler und mit einer stark auftretenden Staatsmacht ausgestattet. Doch demokratischer ist das bevölkerungsreichste arabische Land nun wirklich nicht geworden.
Alle sind sich schon jetzt sicher, dass die Wahlbeteiligung ein weiteres Mal extrem niedrig sein wird. Ein Wissenschaftler des Al-Ahram-Zentrums für politische und strategische Studien in Kairo sieht darin aber allen Ernstes eine positive Entwicklung. "Wir werden (bei diesen Wahlen) einen Rückgang der öffentlichen Aufmerksamkeit im Vergleich zu den Wahlen 2011 und 2012 erleben. Die politische Landschaft ist inzwischen stabiler und die Menschen fühlen sich zufriedener", sagte Sobhi Eseila zu "Al-Ahram". Weniger Kontroverse führe zu weniger Interesse bei den Wählern.
Paranoia löst Islamismus ab
Bei der Präsidentschaftswahl im vergangenen Jahr erhielt Abdel Fattah al-Sisi 97 Prozent der Stimmen. Zur Wahl gegangen waren aber nur 47 Prozent der insgesamt rund 55 Millionen Wahlberechtigten. 2011/12 hatte Ägypten, noch beseelt vom Sturz des zuvor 30 Jahre herrschenden Husni Mubarak, einen leidenschaftlichen, wenn auch chaotischen Wahlkampf erlebt. Die Partei, die damals gewann, ist heute verboten und viele ihrer Mitglieder inhaftiert: die Muslimbrüder. Dieses und vergangenes Jahr wurden bereits mehr als tausend Todesurteile gegen Mitglieder der Muslimbrüder verhängt. Es wird vermutet, dass diese nur vereinzelt vollstreckt und ansonsten in lebenslange Haftstrafen umgewandelt werden. Doch das Signal war klar.
In der Lesart der heute Herrschenden fand die eigentliche Revolution im Sommer 2013 statt, als Millionen Ägypter wiederum gegen die Regierung der Muslimbrüder demonstrierten. Die Regierung unter Präsident Mohammed Mursi hatte enttäuscht. Aus dieser Sicht war der Militärputsch keiner. Es heißt, der Sturz Mursis habe mit dem Rückhalt der ägyptischen Bevölkerung stattgefunden. Das mag sogar auf viele Menschen des 88-Millionen-Volkes zutreffen.
Doch seitdem treibt sich die Militärführung in eine nie dagewesene Paranoia, die zu einem verordnetem Nationalismus und immer absurderen Vorschriften führt. Seit August schreibt ein neues Gesetz für Journalisten vor, wie Medien zu berichten haben. Das Wort "Dschihadist" etwa ist unerwünscht, "Terrorist" oder "Schlächter" geht in Ordnung. Auch ausländischen Korrespondenten wurde nahegelegt, wie sie über politische Themen aus Ägypten zu berichten hätten.
Der IS hat auch in Ägypten schon einen Fuß
Es wäre schwierig genug, die gespaltene und frustrierte ägyptische Gesellschaft wieder zu einen. Jugendarbeitslosigkeit, Wirtschaftskrise, allgemeine Verunsicherung und eine aggressive Atmosphäre prägen Ägypten fast fünf Jahre nach dem Aufstand vom Tahrir-Platz. Während Polarisierung und autoritäres Denken zunehmen, werden Teile Ägyptens von schweren Kämpfen zwischen Polizei und Armee und Dschihadisten erschüttert. Auf der Halbinsel Sinai treibt eine Gruppe ihr Unwesen, die dem Islamischen Staat die Treue geschworen hat und sich "Provinz Sinai" nennt. Hunderte Sicherheitskräfte sind in dem Krieg auf dem Sinai schon ums Leben gekommen. Der islamistische Terror ist bereits in der Hauptstadt Kairo angekommen, kleinere Anschläge ereignen sich beinahe wöchentlich. Anfang August enthaupteten Mitglieder des Sinai-IS einen kroatischen Geschäftsmann in der Wüste nahe Kairo.
Die Antwort des Staates ist so radikal wie verzweifelt. Einerseits versucht das Sisi-Regime die Situation für sich positiv zu nutzen und sich als alternativlose Macht zu präsentieren, die einzige für Stabilität sorgt. Doch jeder neue Anschlag offenbart genau das Gegenteil. Ägypten entwickelt sich zu einem repressiven Staat, die Gefängnisse sind voll und das Leben für Oppositionelle jeder Couleur lebensgefährlich. In einem Interview mit der Zeitschrift "Zenith" räumte ein dem Regime freundlich gesinnter ehemaliger Funktionär der Mubarak-Partei ein, die Sicherheitskräfte gingen imkompetent mit der Sicherheitslage um. "Gewalt springt über und in einem solchen Klima kommt es auch seitens der Sicherheitskräfte zu Übergriffen und Menschenrechtsverletzungen, die aber so nicht beabsichtigt sind."
Das wichtigste Bündnis: "Für die Liebe Ägyptens"
Wenn an diesem Samstag also die Exil-Ägypter als erste ihre Stimmen abgeben, beginnt tatsächlich ein Prozess, der mehr vorgezeichnete Bestätigung des Ist-Zustandes ist als demokratischer Willensbildungsprozess. Am Sonntag und Montag wählen 14 Provinzen, eine Woche später geht es in die Stichwahl. In den restlichen 13 Provinzen wählen die Ägypter erst Ende November und Anfang Dezember. Die Sitzverteilung im Parlament erfolgt nach Mehrheitswahlrecht, aber mit Quoten für Frauen, Christen, Behinderte, Jugendliche, Arbeiter und Landwirte.
Das wichtigste Parteienbündnis nennt sich "Für die Liebe Ägyptens" und umfasst die Wafd-Partei, die Freien Ägypter sowie frühere Minister und Geschäftsleute. Aus dem islamistischen Lager ist allein die salafistische Nur-Partei zur Wahl zugelassen. Sie hat sich jedoch eindeutig auf die Seite al-Sisis gestellt und die Entmachtung Mursis für gerechtfertigt erklärt. Nur wer dem System gefällig ist, erhält einen Platz darin. Dabei ist die Bilanz des Sisi-Regimes seit 2013 dürftig: Gegenüber "Zenith" sagte der frühere Mubarak-Berater: "Bisher war die Revolution noch kein Erfolg." Der zarte Wirtschaftsaufschwung von vor 2011 sei abgewürgt, aber keine politische Freiheit gewonnen worden.
Quelle: ntv.de, mit AFP