Politik

Die "Verschwörung" im Wald Als die Sowjetunion aufgelöst wurde

25. Dezember 1991, 19.32 Uhr Moskauer Zeit: Die sowjetische Flagge wird eingeholt, und die russische Trikolore wird gehisst.

25. Dezember 1991, 19.32 Uhr Moskauer Zeit: Die sowjetische Flagge wird eingeholt, und die russische Trikolore wird gehisst.

(Foto: picture alliance / dpa)

Im Wald von Belowesch wird Geschichte geschrieben. Die höchsten Repräsentanten Russlands, Weißrusslands und der Ukraine beschließen das Ende der Sowjetunion. Damit ist auch Michail Gorbatschow entmachtet.

Leonid Krawtschuk (links) mit Stanislaw Schuschkjewitsch.

Leonid Krawtschuk (links) mit Stanislaw Schuschkjewitsch.

(Foto: imago stock&people)

Die Telefonverbindung zu Michail Gorbatschow kommt nur mit großer Mühe zustande. Ein ziemlich unwilliger Sicherheitsbeamter in Moskau löchert Weißrusslands Parlamentschef Stanislaw Schuschkjewitsch, der oberster Repräsentant der sowjetischen Teilrepublik ist, mit vielen Fragen. Doch endlich hat Schuschkjewitsch, der von seiner Regierungsdatscha im Wald von Belowesch aus anruft, den sowjetischen Präsidenten an der Strippe und teilt ihm mit, dass das Ende der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) besiegelt sei. Gorbatschow fragt nur, was das Ausland davon halten solle. Schuschkjewitsch antwortet, dass der russische Präsident Boris Jelzin dabei sei, US-Präsident George Bush zu informieren, beide Politiker telefonierten gerade. Gorbatschow erkennt, dass der Staat, dem er vorsteht, de facto nicht mehr existiert und fügt sich seinem Schicksal. Er wird später von einer "Verschwörung" sprechen.

Es ist der 8. Dezember 1991, an dem die Sowjetunion aufgelöst wird. Neben Jelzin und Schuschkjewitsch ist auch der ukrainische Präsident Leonid Krawtschuk im Wald von Belowesch anwesend. Symbolisch für den Untergang des maroden Imperiums ist die Suche nach dem Papier, das von den drei Politikern und ihren Delegationen ausgearbeitet worden war. Eine umfangreiche Suchaktion beginnt, und schließlich wird das Dokument in einem Papierkorb der Leibwächter gefunden - das Chaos, das in diesen Tagen in der Sowjetunion herrscht, macht auch vor dem weißrussischen Waldstück nicht halt. Auflösungserscheinungen allerorten. Die gefürchtete zweite Supermacht haucht endgültig ihr Leben aus. An ihre Stelle tritt ein lockerer Staatenbund: die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, kurz GUS, der bis 1993 die meisten Sowjetrepubliken beitreten. Die baltischen Staaten bleiben freiwillig draußen, Georgien tritt erst 1993 bei.

UdSSR im Prozess der Auflösung

Michail Gorbatschow gibt in einer Fernsehansprache seinen Rücktritt bekannt.

Michail Gorbatschow gibt in einer Fernsehansprache seinen Rücktritt bekannt.

(Foto: picture-alliance / dpa/dpaweb)

Spätestens jetzt ist Gorbatschow ein Präsident ohne Land. Er sitzt isoliert im Kreml und kann nur noch seine Rücktrittserklärung verlesen. Am 25. Dezember tritt Gorbatschow ab. Die über dem Kreml wehende rote Flagge mit Hammer und Sichel wird durch die russische Trikolore ausgetauscht.

Für Gorbatschow sind Jelzin, Krawtschuk und Schuschkjewitsch die Totengräber der UdSSR. Doch das ist nicht die ganze Wahrheit: Das Sowjetreich befand sich bereits seit Ende der 1980er Jahre in der Auflösung. Die Unabhängigkeitsbestrebungen nahmen zu. Es war auch schon Blut geflossen. Am 9. April 1989 gingen Sowjetsoldaten in Tiflis gegen Menschen vor, die für die Unabhängigkeit Georgiens demonstrierten - es gab 19 Tote. Am 13. Januar 1991 starben in der litauischen Hauptstadt Vilnius 14 Menschen bei einem Armeeeinsatz. Zwischen Armenien und Aserbaidschan war ein Krieg um Berg-Karabach entbrannt. Es brodelte seit geraumer Zeit im Vielvölkerstaat.

Gorbatschow muss sich spätestens 1991 eingestehen, dass sein Versuch, das kommunistische System zu reformieren, gescheitert ist. Die wirtschaftliche Lage in der Sowjetunion ist katastrophal, die Regale in den Läden sind leer. Die Supermacht, die in der Lage ist Raketen in den Weltraum zu schießen und militärisch Angst und Schrecken verbreitet, ist nicht einmal mehr in der Lage, ihre Menschen mit dem Notwendigsten zu versorgen. Die rund vier Millionen Mann umfassende Sowjetarmee verschlingt rund 25 Prozent der Wirtschaftsleistung. Um Schlimmeres zu verhindern, muss der Westen mit Krediten aushelfen.

Putschversuch scheitert

Auch politisch steht Gorbatschow unter Druck. Die über Jahrzehnte herrschende Allmacht der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) neigt sich dem Ende zu, die Partei zerfällt. 1990 treten eine Million der 18 Millionen Mitglieder aus. Die meisten der Ausgetretenen sind Konservative, die gegen Gorbatschows Kurs von Glasnost und Perestroika und gegen die Entlassung der europäischen Satellitenstaaten in ihre Eigenständigkeit sind.  

August 1991. Panzer in Moskau. Der Putschversuch schlägt fehl.

August 1991. Panzer in Moskau. Der Putschversuch schlägt fehl.

Und die Kräfte der Vergangenheit begehren noch einmal auf, um schlussendlich das Ende der UdSSR zu forcieren. Gorbatschow versucht verzweifelt, die Sowjetunion mittels eines Referendums am 17. März 1991 zu erhalten. Zwar gibt es eine Mehrheit für den Fortbestand. Dieser "Sieg" ist aber wertlos, weil sich einige Teilrepubliken dem Votum verweigern. Also soll ein neuer Unionsvertrag her, der den Republiken mehr Freiheiten geben soll. Die für den 20. August 1991 anberaumte Abstimmung kann nicht mehr stattfinden, denn am Vortag putschen konservative Mitglieder um Vizepräsident Gennadi Janajew gegen Gorbatschow. Der Umsturzversuch scheitert, und der geschwächte Präsident kehrt von seinem Urlaubssitz auf der Krim nach Moskau zurück, um dann endgültig von seinem Gegenspieler Boris Jelzin, der freigewählter Präsident Russlands ist, entmachtet zu werden.

Boris Jelzin betreibt Gorbatschows Entmachtung.

Boris Jelzin betreibt Gorbatschows Entmachtung.

(Foto: picture alliance / dpa)

Jelzins erster Maßnahme ist das Verbot der KPdSU in Russland. Er erntet dabei im Parlament Beifall von Abgeordneten, die Mitglied dieser Partei waren beziehungsweise sogar noch sind. Der ehemalige Kommunistenchef von Swerdlowsk (heute Jekaterinburg) und Moskau stellt sich an die Spitze der antikommunistischen Bewegung. Mit dem KPdSU-Verbot in der größten Teilrepublik wird der zentrale Machtanker der UdSSR gekappt. Die Republiken erklären reihenweise ihre Unabhängigkeit. Die baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen, die Stalin 1940 annektieren ließ, sind bereits vorher aus dem sowjetischen Staatsverband ausgetreten. So gesehen ist der Federstrich im Wald von Belowesch nur der letzte Sargnagel für die Sowjetunion.     

Ihren Zusammenbruch hat Russlands derzeitiger starker Mann Wladimir Putin einmal als größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet. "Ihr wisst, was ich vom Zerfall der Sowjetunion halte. Es war absolut nicht notwendig gewesen, sie zum Auseinanderfallen zu bringen. Man hätte die Wende, auch ihre demokratische Komponente, auf eine andere Weise vollziehen können", betonte er bei einem Treffen mit russischen Parteivorsitzenden im September dieses Jahres. Überhaupt sind es vor allem die Russen, die der ehemaligen Größe der UdSSR nachtrauern.

Russland will wieder Supermacht werden

Putins jüngste Ausführungen zur Außenpolitik im Rahmen seiner Rede an die Nation zeugen allerdings von einem erneuerten Selbstbewusstsein der Russischen Föderation ein Vierteljahrhundert nach dem Zerfall der UdSSR. Russische Streitkräfte operieren wieder weit entfernt von der Heimat. In Syrien hat Putin das Kräfteverhältnis zu Gunsten des Regimes von Baschar al-Assad verändert. Russland wird wieder zum machtpolitischen Global Player. Gleichzeitig verteidigt es seine Interessensphären. Wenn nötig, auch mit Gewalt, die Ereignisse in der Ostukraine und die russische Annexion der Krim verdeutlichen dies.

Es ist das Streben nach neuem Glanz, das Putin umtreibt. Er will aus Russland wieder eine Supermacht machen. Dem steht allerdings die wirtschaftliche Schwäche des flächengrößten Landes der Welt im Wege.

Was ist aus den Protagonisten vom 8. Dezember 1991 geworden? Jelzin war noch bis Ende 1999 russischer Präsident, er starb 2007. Der 81-jährige Schuschkjewitsch spielt im Weißrussland des Diktators Alexander Lukaschenko keine wichtige politische Rolle, er führt eine der vier bedeutungslosen sozialdemokratischen Parteien des Landes. Der Ukrainer Krawtschuk - mittlerweile 82 Jahre alt - wurde ebenfalls Sozialdemokrat. Der ehemalige Kommunist verließ 2009 seine Partei, als diese sich entschloss, mit der Kommunistischen Partei der Ukraine an einem Linksbündnis zu beteiligen. Krawtschuk beklagt im Zusammenhang mit den jüngsten Ereignissen in seinem Land, dass die Russen "uns seit 350 Jahren als ihren Gutsbesitz" betrachten.

Die drei Politiker haben dennoch einen Platz in den Geschichtsbüchern sicher. Denn sie haben der bereits am Boden liegenden Sowjetunion den endgültigen Todesstoß versetzt.

Quelle: ntv.de

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