Problem mit Truppen und Logistik Assad braucht Putins Hilfe - aber der "Syrien-Express" kollabiert
07.12.2024, 06:30 Uhr
Kann Wladimir Putin seinen Verbündeten Baschar al-Assad in Syrien an der Macht halten?
(Foto: imago images/ITAR-TASS)
Baschar al-Assad braucht ausländische Hilfe, um sich in Syrien an der Macht zu halten. Aber der mächtige Verbündete Russland kann nicht helfen wie in der Vergangenheit: Der Kreml benötigt seine Truppen in der Ukraine, im "syrischen Sandkasten" sind gescheiterte Generäle aktiv.
Nach jahrelanger Pattsituation im syrischen Bürgerkrieg steht Machthaber Baschar al-Assad vor dem Verlust seiner Macht. Die Regierungstruppen des Präsidenten sind schwer unter Druck, es kursieren bereits Gerüchte, Assad sei nach Moskau geflüchtet. Kremlchef Wladimir Putin entscheidet mit, ob sich der syrische Diktator an der Macht halten kann oder nicht.
Derzeit sieht es so aus, als würde Russland den langjährigen Verbündeten im Nahen Osten fallen lassen. "Es ist unwahrscheinlich, dass Russland den Syrien-Express betreibt wie bisher", analysiert das russische Exilmedium Meduza, nachdem der Krieg vergangene Woche Mittwoch wieder aufgeflammt war.
Die islamistische Milizentruppe Haiat Tahrir al-Scham (HTS) hatte nach vier Jahren weitgehendem Stillstand vergangene Woche Mittwoch einen Überraschungsangriff auf Aleppo im Nordwesten Syriens gestartet. Nur zwei Tage später verkündeten die Islamisten die Einnahme der zweitgrößten Stadt des Landes. "Es handelt sich um islamistische Gruppen, nicht um Dschihadisten", erklärt die Journalistin und Syrien-Expertin Kristin Helberg bei ntv. "Sie haben keine internationale dschihadistische, sondern eine nationale islamistische Agenda."
Zehn Millionen Dollar Kopfgeld auf Anführer
Seit sich die Milizentruppe 2017 von Al Kaida losgelöst hat, wird die HTS von einigen Experten als vergleichsweise gemäßigt eingestuft. Doch unter anderem die USA sehen in der HTS weiterhin eine Terrororganisation, Washington hat auf Anführer Abu Mohammed al-Dschulani ein Kopfgeld in Höhe von zehn Millionen Dollar ausgesetzt.
Die HTS war vor der Abkopplung von Al Kaida unter dem Namen al-Nusra-Front als syrischer Ableger der international agierenden Terrorgruppe aktiv. "Das sind Kräfte, die weitgehend aus der Region Aleppo stammen und sich schon seit Anfang des Arabischen Frühlings gegen das Regime von Assad engagiert haben", ordnet Ralph Thiele im ntv-Interview ein.
Der Militärexperte warnt jedoch davor, die HTS als gemäßigte Freiheitskämpfer anzusehen. "Sie sind sehr hasserfüllt. Jetzt versuchen sie, dort anzuknüpfen, wo sie vor ein paar Jahren bereits standen, dann aber vertrieben wurden."
"Wer in Homs gewinnt, wird Syrien regieren"
Die Truppe um Anführer al-Dschulani ist nach der Eroberung von Aleppo weiter in Richtung Süden vorgerückt und hat in dieser Woche die 140 Kilometer entfernte Großstadt Hama eingenommen. Nun stehen die HTS-Kämpfer vor Homs, der drittgrößten Stadt Syriens, weitere 50 Kilometer südlich gelegen.
Bis in die Hauptstadt Damaskus sind es von hier aus weitere 180 Kilometer Richtung Süden, aber der Kampf um Homs könnte bereits der alles entscheidende sein. "Wer die Schlacht um Homs gewinnt, wird Syrien regieren", prognostiziert der Leiter der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, Rami Abdel-Rahman. Auf dem Weg nach Homs mit seinen gut 1,5 Millionen Einwohnern seien die HTS und ihre Verbündeten ohne Gegenwehr in die Städte Rastan und Talbisseh eingedrungen, berichtet Abdel-Rahman.
"Syrien in vier Teile unterteilt"
Die Lage in Syrien ist deshalb so kompliziert, weil gleich mehrere Milizentruppen im Land für ihre Ziele kämpfen. "Syrien ist seit 2020 in vier Teile unterteilt. Das Assad-Regime kontrolliert etwa zwei Drittel des Landes", berichtet Helberg. Während in der nordwestlichen Provinz Idlib die HTS aktiv ist, besetzt die Türkei entlang der türkisch-syrischen Grenze im Norden Gebiete zusammen mit der Syrischen Nationalen Armee (SNA). "Das sind syrische Söldner, die aktuell auch an der Offensive gegen die Assad-Truppen beteiligt sind und vor allem im Norden Aleppos die kurdischen Kräfte angreift und vertreiben möchte."
Die Kurden kontrollieren unterdessen im Nordosten etwa ein Drittel des syrischen Staatsgebiets. Dabei handelt es sich um die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), die von der Türkei als Terrorgruppe eingestuft werden. "Das sind Verbündete des Westens im Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat, der im Übrigen im Osten des Landes auch wieder erstarkt", erklärt Helberg.
Russland war "entscheidender Akteur"
Russland nimmt in dieser vertrackten Gemengelage seit vielen Jahren eine besondere Rolle ein. Ohne die Unterstützung aus Moskau hätte sich Syriens Machthaber Assad nicht an der Macht halten können. Diese Hilfe bröckelt jedoch, weil Putin für seinen Verbündeten kaum noch Soldaten und Material übrig hat. Grund dafür ist der Krieg in der Ukraine.
Mit der Invasion des Nachbarlands ist Syrien in der russischen Prioritätenliste abgerutscht. Zuvor hatte das Land im Nahen Osten eine große Rolle in der Außenpolitik des Kreml gespielt. 2016 half Moskaus Luftwaffe den Regierungstruppen von Assad entscheidend dabei, Aleppo zurückzuerobern. Die Militäroperation habe Russlands "militärische Effektivität unter Beweis gestellt" und zum damaligen Zeitpunkt die Rolle als "entscheidender externer Akteur in Syrien zementiert", blickt das Fachmagazin "Foreign Policy" zurück.
Russland habe die anderen ausländischen Kräfte in dieser Phase des syrischen Bürgerkriegs "in den Schatten gestellt", so die Analyse. Die USA seien in dieser Zeit damit beschäftigt gewesen, den IS zu bekämpfen. Die Türkei habe sich auf die kurdischen Gruppen entlang der türkisch-syrischen Grenze fokussiert.
Erfolglose Generäle nach Syrien abkommandiert
Der Fall von Aleppo unterstreicht jedoch, dass Russland in Syrien gewaltig an militärischer Macht eingebüßt hat. Der Kreml zog seit Beginn der Ukraine-Invasion sukzessive Truppen aus Syrien ab, um sie an die Front in der Ukraine zu verlagern. In Syrien sind nur noch einige Einheiten der Spezialkräfte sowie ein Teil der russischen Luftwaffe vor Ort.
Auch der für Syrien zuständige General - Sergej Kisel - ist inzwischen gefeuert worden, berichten russische Militärblogger. Offiziell ist die Ablösung bisher nicht, allerdings war der Kreml mit Kisel schon in der Ukraine unzufrieden. Der General war vor seiner Abkommandierung nach Syrien Kommandeur einer Panzerarmee-Einheit, die es nicht geschafft hat, Charkiw einzunehmen.
Dass Generäle, die in der Ukraine gescheitert sind, nach Syrien "abgeschoben" werden, habe System, kritisieren russische Kriegsblogger. In Syrien werde "der Ruf gescheiterter Generäle gewaschen", heißt es. "Inkompetente" Generäle würden in den syrischen "Sandkasten" geschickt.
Laut Meduza hat Russland tatsächlich mehrere Generäle in den vergangenen Jahren aus der Ukraine abgezogen und nach Syrien geschickt. "Wahrscheinlich, weil in Syrien ein stabiler Waffenstillstand herrschte und es dort nichts zu versemmeln gab", zitiert das russische Exilmedium einen nicht namentlich genannten Kreml-Insider.
Logistik-Desaster wegen der Türkei
"Man muss auch erstaunt sein, dass die russischen Nachrichtendienste von den Angriffen offensichtlich komplett überrascht wurden", ergänzt Militärexperte Thiele im ntv-Interview. "Die Einzigen, die wussten, was vorgeht, dürfte die Türkei gewesen sein."
Mittlerweile droht sogar, die wichtige Marinebasis Tartus unter Feuer zu geraten. Putins einziger Flottenstützpunkt außerhalb Russlands liegt jeweils 100 Kilometer entfernt von Hama und Homs an der syrischen Mittelmeerküste.
Der Militärhafen in Tartus ist ohnehin zur Achillesferse geworden, seitdem die Türkei 2022 nach Beginn des Ukraine-Krieges die Durchfahrt durch den Bosporus für sämtliche Kriegsschiffe gesperrt hat. Das hat schon vor der neuerlichen Eskalation in Syrien für erhebliche Logistikprobleme gesorgt. War die Nachschubroute auf dem Seeweg vor der Bosporus-Schließung vergleichsweise kurz, muss die russische Marine seit zwei Jahren eine deutlich längere Route durch Ostsee, Nordsee, Ärmelkanal, Atlantik und Mittelmeer in Kauf nehmen. Der russische "Syrien-Express" kollabiert auf allen Ebenen.
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Quelle: ntv.de