
Baerbock besuchte in Prätoria auch die Deutsche Internationale Schule.
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Südafrikas Haltung zum russischen Angriffskrieg hat im Westen Fassungslosigkeit ausgelöst: eine Demokratie, die sich als Partner eines Aggressors sieht? Außenministerin Baerbock wirbt vor Ort für Verständnis, indem sie selbst Verständnis signalisiert.
Verspätungen sind nicht automatisch ein gutes Zeichen. Wird allerdings ein straffer Zeitplan empfindlich gedehnt, weil die deutsche Außenministerin und ihre südafrikanische Amtskollegin sich in Pretoria doch viel mehr zu sagen haben als man vorher annehmen musste, dann schon. Und erst recht, wenn anschließend das halbe Nachmittagsprogramm über den Haufen geworfen wird, weil kurzfristig auch noch ein Gespräch mit Präsident Cyril Ramaphosa möglich wird, das nicht nach 30, sondern nach 75 Minuten zu Ende geht. Solche Verspätungen sind durchaus ein gutes Zeichen.
Die Voraussetzungen für Annalena Baerbocks ersten Besuch in Südafrika waren denkbar schwierig. Als die Vereinten Nationen kurz nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine ein starkes Signal Richtung Kreml schicken wollten, enthielt sich Südafrika mit etlichen Nachbarländern vom Kontinent der Stimme. Drei Wochen später ging es bei den UN nochmals um eine Verurteilung der russischen Aggression, wieder verweigerte Südafrika - flankiert von Ländern wie Mali, Sudan, Algerien, Uganda, Simbabwe - die Unterstützung.
Der Westen war baff. Dass Länder, deren Staatsoberhäupter sich um Demokratie nicht scheren und sich von Russland mit Waffen und Desinformationskampagnen unterstützen lassen, wohl kaum gegen den votieren, an dessen Tropf sie hängen - geschenkt. Südafrikas Verweigerung jedoch, als lebendige Demokratie, die man bislang als überzeugte Partnerin im Kampf für Menschenrechte empfunden hat - ein Hammer in den Augen vieler westlicher Regierungen.

Das kurzfristig angesetzte Treffen und vor allem die Dauer des Gesprächs mit Präsident Ramaphosa wurden als positives Signal an Deutschland verstanden.
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Aus südafrikanischer Sicht ist Moskau ein Freund
Garniert wurde die südafrikanische Position mit dem Hinweis, man sei "neutral" und mit immer harscheren Vorwürfen Richtung Westen. Dieser Krieg wäre vermeidbar gewesen, "wenn die NATO nicht so weit gegangen wäre", bemühte Ramaphosa eine Legende, die in Deutschland allenfalls in Schwurblerkreisen auf Zustimmung stößt. Vor einem Jahr, beim Besuch des Bundeskanzlers am Kap, stritten Olaf Scholz und Ramaphosa gar auf offener Bühne. Noch in diesem Frühjahr sprach Außenministerin Naledi Pandor von Russland als "Freund", mit dem man seit vielen Jahren Partnerschaften gehabt habe, eingeschlossen jener, "als wir das Apartheidsregime bekämpften". Solche Sätze sitzen, aber eher quer.
Annalena Baerbock machte sich am Montag auch auf nach Südafrika, um eine Position, die solche Sätze hervorbringt, offen zu hinterfragen. Was also konnte der Besuch am Kap anderes werden als eine Mission auf hochgradig vermintem Gelände? Auch wenn klar ist, dass der Westen einige dieser Minen in der Vergangenheit selbst gelegt hat.
Wenn Ministerin Pandor Russland etwa als einstigen Partner im Kampf gegen die Apartheid benennt, beruht das schlicht auf Tatsachen: Während der Westen mit dem Apartheidsregime während des Kalten Krieges Geschäfte machte, erhielt die Befreiungsbewegung ANC Unterstützung aus der Sowjetunion. Das macht das Verhalten des Kreml heute nicht besser. Wohl aber ist es ein Faktor, der die heutige Zurückhaltung Pretorias gegenüber Moskau verständlicher macht.
Kritik, aber keine Arroganz
Eine veritable Tretmine mitten im Weg, für die Baerbock nicht die Strategie des weiträumigen Vermeidens wählte, sondern direkte Entschärfung: "Zur Ehrlichkeit gehört: Westdeutschland stand zur Zeit der Apartheid nicht klar auf der richtigen Seite der Geschichte", sagte die grüne Ministerin in einem Statement. "Von heute aus betrachtet erscheint das unbegreiflich."
Botschaft 1: Uns Deutschen ist unser damaliges Versagen bewusst. Botschaft 2: Manchmal verhält man sich unbegreiflich - ist deutschen Regierungen auch schon passiert.
Aus den bilateralen Gesprächen der Ministerin drang am Dienstag nichts nach außen, doch es mögen Signale dieser Art gewesen sein, die bei ihren südafrikanischen Gesprächspartnern die Bereitschaft weckten, sich jenseits von Floskeln wirklich auszutauschen. Denn so kritikwürdig die Haltung Südafrikas ist, Arroganz ihr gegenüber wäre unangebracht.
Die Erfahrung der Pandemie wirkt nach
Gemeinsam mit vielen anderen Ländern des globalen Südens hat Südafrika während der Corona-Pandemie die Erfahrung gemacht, dass Solidarität beim Thema Impfstoff für die reichen Länder erst dann begann, wenn die eigene Bevölkerung den zweiten Booster intus hatte. Dass arme Staaten nicht mal ihre Schwächsten schützen konnten und mit striktesten Lockdowns ihre Wirtschaft gegen die Wand fuhren: Wen juckte das tatsächlich?
Wenn es drauf ankommt, denkt der Westen an sich, lautet eine afrikanische Schlussfolgerung aus dieser Erfahrung. Nicht die beste Werbung dafür, sich jetzt an die Seite der NATO und gegen ein Russland zu stellen, das ein wichtiger Lieferant für Getreide ist. Was Deutschland beim Thema Energie mit Mühe gelang, sich aus der Abhängigkeit von Russland zu befreien, das muss einem Land wie Südafrika beim Agrarsektor ungleich schwerer fallen.

Tretminen entschärft statt vermieden: Baerbock und die südafrikanische Außenministerin Pandor.
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Wie schwer, das kann erahnen, wer jenseits des Regierungssitzes in Pretoria über Land fährt: Backstein- und Wellblechhütten säumen die Straße, Fensterscheiben sind beileibe kein Standard. Dazwischen stehen ärmlich gekleidete Menschen herum und illustrieren für Vorbeifahrende die Arbeitslosenquote: ein Drittel der Bevölkerung.
"Ideologischer Ballast" in Südafrika
Die Außenministerin hat an ihrem prall gefüllten Besuchstag nichts vom prekären Leben gesehen, aber sie benennt die gewachsenen wirtschaftlichen Sorgen und adressiert den Verantwortlichen: Putin, dessen Krieg die Inflation und besonders Lebensmittelpreise in allen Teilen der Welt nach oben peitscht, Länder in Energiekrisen stürzt und Arme in Existenzangst.
Neben begründbaren Vorbehalten der Südafrikaner gegenüber der NATO-Position, attestiert Sicherheitsexperte Philipp Rotmann vom Global Public Policy Institute (GPPI) dem Land und seiner Regierungspartei ANC allerdings auch "einen billigen Antiamerikanismus, der weit über die berechtigte Kritik an der Invasion im Irak vor zwei Jahrzehnten oder die Kontroverse um die Intervention in Libyen vor zehn Jahren hinausgeht". Durch diesen "ideologischen Ballast" bekommt Südafrika die leidende Ukraine nicht in den Blick.
Baerbocks Mission könnte geholfen haben, dass sich Deutschland seinerzeit - von vielen kritisiert - dem UN-Votum für eine Flugverbotszone über Libyen nicht anschloss. In den Augen der Südafrikaner erlangt die Bundesregierung damit und womöglich mit Respekt für die Sichtweisen anderer eine Glaubwürdigkeit, die laut Rotmann helfen kann, wenn die Ministerin "für einen offenen Blick auf die Ukraine wirbt".
Gemeinsame Erinnerung an Butscha
Es ist keine zwei Wochen her, da hatten Ramaphosa und Pandor exakt diesen Blick: Mitte Juni reiste die südafrikanische Regierung gemeinsam mit Vertretern sechs anderer Länder Afrikas in die Ukraine und nach Russland, um ihre "afrikanische Friedensinitiative" vorzustellen - einen Zehn-Punkte-Plan, der bislang allerdings weder in Kiew noch in Sankt Petersburg nennenswert verfangen hat.
Doch etwas anderes passierte: Die Ukrainer fuhren die Besuchergruppe aus Afrika nach Butscha, in jene Stadt, die schon in den ersten Wochen des russischen Überfalls zum Ort erschütterndster Kriegsverbrechen wurde. Das Blut der wehrlosen Bewohner auf dem Asphalt mag ausgewaschen sein, aber die Aura von Menschen, die hier zu Unmenschen wurden, wird aus den Straßen wohl nie ganz verschwinden.
Eine Erfahrung, die auch Baerbock bei ihrem Besuch in Butscha gemacht hat. Sie ahnt vielleicht, dass ein Zeugnis solcher Gräuel schwerer wiegen könnte als alles, worin der Westen in den letzten Jahrzehnten aus afrikanischer Sicht versagt hat. Die Ministerin spricht ihre Amtskollegin direkt auf die einende Erfahrung an: "Dort zu stehen, du als Mutter, ich als Mutter, Monate zuvor. Zu sehen, was Menschen anderen Menschen antun können, und unsere gemeinsame Verantwortung zu fühlen, solches in der Zukunft zu verhindern."
Die Deutsche sagt Südafrika bei ihrem Besuch Unterstützung für das Ansinnen zu, einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat zu bekommen und eine Mitgliedschaft der Afrikanischen Union bei den G20. Nicht mehr als ein erster Schritt. Wenn die westlichen Industriestaaten Afrika überzeugen wollen, dass sie die richtigen Partner sind und nicht der Kreml, werden sie bereit sein müssen, noch deutlich mehr Macht zu teilen.
Die Südafrikanerin Pandor verwahrt sich zum Ende der gemeinsamen Pressekonferenz mit Nachdruck dagegen, jemals die russische Position unterstützt zu haben. Den Krieg Putins nennt sie nicht mehr "Konflikt", sondern Krieg. Auch das mögen erste Schritte sein, aus der Erkenntnis heraus, dass es ein Unrecht wäre, die leidenden Ukrainer "für die Sünden ihrer Retter in Haftung zu nehmen", wie Philipp Rotmann es formuliert. Die eine oder andere Mine wurde bei diesem Besuch in Südafrika vielleicht tatsächlich aus dem Weg geräumt.
Quelle: ntv.de