Cameron hat es provoziert "Brexit-Anhänger werden nicht lockerlassen"
20.06.2016, 17:50 Uhr
Der Ausgang des Referendums ist völlig ungewiss.
Ein Brexit könnte der Anfang der Selbstzerstückelung Großbritanniens sein, sagt der Labour-Abgeordnete Paul Farrelly im Gespräch mit n-tv.de. Doch die Brexit-Anhänger störe dies nicht. Farrelly, der auch Vorsitzender der britisch-deutschen Parlamentariergruppe ist, glaubt: Sie werden bis zum letzten Atemzug weiterkämpfen - auch wenn sie beim Referendum über einen EU-Verbleib am 23. Juni verlieren sollten.
n-tv.de: Sie kämpfen für einen Verbleib Großbritanniens in der EU. Was wäre so schlimm an einem Brexit?
Paul Farrelly: Ich bin der Vorsitzende der britisch-deutschen Parlamentariergruppe und habe auch in Berlin gelebt. Dort habe ich gesehen, welche Auswirkungen der Krieg und der Kalte Krieg hatten – und das hat meine Einstellung zum Referendum stark beeinflusst. Die Geschichte lehrt mich: Wir müssen eine Wahl treffen, um auf der richtigen Seite der Geschichte zu sein.
Und welche ist das?
Wir müssen im Herzen von Europa bleiben. Wir müssen zusammenarbeiten. Wir haben das Glück, dass es in Europa eine bis dato ungekannte Periode von Frieden gibt. Die Menschen halten ihn jetzt für etwas Selbstverständliches. Doch das ist er nicht. Wären die früheren Republiken von Jugoslawien zum Beispiel in der EU gewesen, hätten sie miteinander geredet und Handel getrieben, hätte es den schrecklichen Krieg dort nicht gegeben.
Brexit-Befürworter sagen: Für Frieden reicht es aus, in der Nato zu sein.
Für mich sind die EU, die Nato und alle anderen Institutionen Teil der Sicherheitsarchitektur. Doch die Nato ist lediglich eine Militärorganisation, die regelmäßigen, vertrauensbildenden Vier-Augen-Gespräche zwischen Politikern finden innerhalb der EU statt. Ihr ist es zu verdanken, dass die Nationen von Europa miteinander reden und zusammenarbeiten – was zum Frieden und Verständnis beiträgt.
Welche wirtschaftlichen Auswirkungen erwarten Sie bei einem Brexit?
Wir diskutieren seit Monaten über ökonomische Fakten und Vorhersagen, und die "Leave"-Kampaigner sagen nur: "Es ist alles einseitig und entspricht nicht der Wahrheit." Dabei geben sie aber keine Antwort darauf, wie wir außerhalb der EU wohlhabender werden können. Selbst wenn man mit der einen oder anderen Analyse nicht übereinstimmt, ein Brexit würde Großbritannien ökonomisch schaden. Das sagen auch die Unternehmen hierzulande. In meinem Wahlkreis sind 80 Prozent der lokalen Firmen für einen EU-Verbleib.
Wieso wollen dann trotzdem so viele Briten aus der EU austreten?
Es gibt keinen rationalen Grund dafür. Premierminister David Cameron hat das Referendum aus kurzsichtigen parteitaktischen Gründen einberufen. Er dachte, so könne er die rechten Tories zufriedenstellen, von denen viele zur Ukip desertiert sind. Tatsächlich ist er ein leichtfertiges Risiko eingegangen und setzt dabei die Zukunft aufs Spiel. Viele Brexit-Anhänger fühlen sich ermutigt und haben bereits angekündigt: "Dieses Referendum wird nicht das Ende sein". Sie werden bis zu ihrem letzten Atemzug versuchen, eine neue Abstimmung durchzusetzen. Sie werden nicht lockerlassen.
Was stört sie so an der EU?
Es gibt verschiedene Gruppen: Eine setzt sich zusammen aus der "Rettet-das-Pfund-Brigade", den traditionellen Konservativen und "Little Englanders". Sie sind gegen so viele Ausländer in Großbritannien. Seltsamerweise besitzen einige von ihnen Ferienhäuser in Frankreich und Spanien. Sie stört es meist auch nicht, wenn nach einem Brexit Schottland Großbritannien verlassen würde.
Welche Gruppen gibt es noch?

Paul Farrelly ist Labour-Abgeordneter und Vorsitzender der britisch-deutschen Parlamentariergruppe.
(Foto: n-tv.de)
Es gibt noch die Angestellten und Arbeiter, die in der Kohle-, Stahl- oder Keramikindustrie arbeiten und Angst haben, wie etwa in meinem Wahlkreis in den Midlands. Sie sind nicht rassistisch eingestellt, sorgen sich aber um ihre Zukunft. Sie fürchten um ihre Jobs und Löhne und dass ausländische Arbeitskräfte sie ersetzen, wenn sie auf ihre Rechte beharren. Das ist ein Anliegen, um das sich die Labour-Partei kümmern muss.
Doch gerade für sie ist offenbar die Antwort der Brexiteer sehr attraktiv: die massive Beschränkung der Zuwanderung.
Die "Leave"-Kampagne liefert gerade beim Punkt Zuwanderung keine Antworten. Sie will im Binnenmarkt bleiben, kann aber nicht sagen, wie sie die Arbeitnehmerfreizügigkeit verhindern will. Auch wenn die Beziehungen mit der EU nach dem norwegischen oder Schweizer Modell organisiert werden, müssen wir EU-Einwanderer ins Land lassen.
Stört die Brexit-Anhänger sonst nichts an Brüssel?
Wenn ich Brüssel besuche, kann ich es kaum erwarten, wieder abzureisen. Die konservativen Brexit-Befürworter fahren nach Brüssel und erklären: "Dieser Ort muss zerschlagen werden." 90 Prozent der Regeln kämen aus Brüssel, wir seien kein souveräner Staat mehr, so ihre Klage. Deshalb müssten wir auf die Diktatur aus Brüssel antworten.
Es gibt aber auch hinderliche Regulierungen aus Brüssel.
Die Regeln können in der Tat sehr frustrierend sein und einen verrückt machen. Aber letztlich verhindert Brüssel damit einen noch größeren Papierkrieg und stellt sicher, dass der Binnenmarkt funktioniert. Der größte Arbeitgeber in meinem Wahlkreis ist eine Online Gaming Company mit 3500 Angestellten. Weil das Glückspiel nicht Teil des Binnenmarktes ist, hat sie mit den 28 verschiedenen Regelwerken der EU-Staaten zu tun. Hinzu kommen die unterschiedlichen Regeln in jedem deutschen Bundesland, in jeder spanischen Region. Diese Firma träumt davon, nur ein Regelwerk zu haben. Auch traditionelle Unternehmen - zum Beispiel in der Keramikindustrie - wollen die EU deshalb nicht verlassen. Selbst wenn sie viele Umweltregeln beachten müssen, haben sie es lieber mit einem als mit 28 Regelwerken zu tun. Sie wissen, dass wir auch bei einem EU-Austritt viele Auflagen beachten müssen, etwa bei Produktsicherheit und beim Umweltschutz.
Auch wenn die "Remain"-Kampagne siegt: Muss sich die EU verändern?
Es gibt auf jeden Fall viel zu tun. Wir brauchen Reformen und die sollten in die Richtung gehen, die Cameron, Kanzlerin Angela Merkel und der Rest von Europa bereits diskutiert haben: Der Binnenmarkt muss ausgeweitet werden. Bei größeren Veränderungen wie durch das Freihandelsabkommen TTIP sollten die nationalen Parlamente zudem eine aktivere Rolle spielen. Es muss sichergestellt werden, dass die Eurozone wieder stabil ist und die Länder wettbewerbsfähig bleiben.
Und falls es zu einem Brexit kommt: Wer sind die Gewinner?
Die einzigen Sieger sind die Leute, die schon in den 1990er-Jahren dem konservativen Premierminister John Major das Leben zur Hölle machten. 20 Jahre älter, haben sie es nun auf David Cameron abgesehen. Auf dem Weg zu ihren Gräbern können sie immerhin triumphieren: "Wir haben es geschafft!"
Mit Paul Farrelly sprach Gudula Hörr
Quelle: ntv.de