
Die meisten Aktivisten lassen sich laut der Aachener Einsatzstelle friedlich wegtragen.
(Foto: IMAGO/ANP)
Vermummte strecken rauchende Bengalos in die Luft und brennende Holzbarrikaden versperren den Weg: Bilder wie diese aus dem Braunkohleort Lützerath verbreiten sich wie ein Lauffeuer. Es wirkt, als würde die Räumung des Aktivisten Camps eskalieren. Doch die Realität sieht anders aus.
Ganz Deutschland schaut auf Lützerath. Seit die Polizei am Mittwoch mit der Räumung des kleinen Dorfes bei Mönchengladbach begonnen hat, reißen die teils erschreckenden Bilder der Proteste nicht ab: Da brennen Holzbarrikaden und Autos, Vermummte stehen mit rauchenden Bengalos auf Dächern und die Einsatzkräfte wappnen sich mit riesigen Wasserwerfern und Reiterstaffeln. Medien berichten über Aktivisten, die Molotow-Cocktails und Böller auf Beamte werfen, bevor sie selbst brutal zu Boden gedrückt werden müssen.
All dies passiert in diesen Tagen in Lützerath - die Bilder lügen nicht. Allerdings zeigen sie oft nur einen kleinen, besonders extremen Ausschnitt der Proteste. Die meiste Zeit verlaufen diese friedlich. Von einem chaotischen Einsatz in Lützerath kann - zu diesem Zeitpunkt - kaum die Rede sein. Hunderte Aktivisten haben sich in dem kleinen Dorf verschanzt, um seinen Abriss und das Abbaggern der darunter gelegenen Kohle zu verhindern. Durch den Fokus auf vereinzelte Straftäter und Berichte über "Klimaterroristen" in Lützerath gerät dieses Anliegen oft in den Hintergrund. Dabei sind die Aktivisten und ihre Aktionen weitaus vielfältiger.
"Die gesamte Klimabewegung Deutschlands ist hier vor Ort", beschreibt Raphael Thelen, Sprecher des Bündnisses "Unräumbar", die Gruppen von Aktivisten in Lützerath. Was das bedeutet, zeigt ein Blick auf die verschiedenen Initiativen, die hinter diesem Bündnis stehen: Neben der Letzten Generation und Extinction Rebellion - zwei Initiativen, die durchaus für radikaleren Klimaprotest stehen - haben sich auch Fridays For Future und die Scientists Rebellion angeschlossen. Zudem sind die Jugendorganisationen der Grünen, Greenpeace, die Wissenschaftler von Scientists For Future und Campact, ein Verein für Bürgerbewegungen, zum Protest in das Braunkohlerevier gereist.
"1,5 Grad-Grenze entscheidet sich auch in Lützerath"
"Die übergroße Mehrheit protestiert hier gewaltfrei", berichtet der Biologe und Campact-Gründer Christoph Bautz. Erst gestern blockierte er mit anderen Wissenschaftlern und der Klimaaktivistin Luisa Neubauer die Zufahrtsstraße von Lützerath. Im Laufe des Tages wurde die Sitzblockade von der Polizei aufgelöst, zu Gewalt kam es dabei nicht. Den Aktivisten - ganz egal welcher Gruppierung sie angehören - gehe es vor allem darum, "dass die Kohle unter Lützerath bleibt". Alles andere wäre eine Abkehr von den Zielen der Pariser Klimakonferenz.
"Die 1,5-Grad-Grenze muss das Limit der Klimaerhitzung sein", erklärt Bautz. "Und sie entscheidet sich eben auch hier in Lützerath." Weil die Klimabewegung mit allen anderen Protestformen bislang kein Gehör gefunden habe, brauche es nun zivilen Ungehorsam, um gegen die Abbaggerung von Lützerath durch den Energiekonzern RWE zu kämpfen. "Baumhäuser, Sitzblockaden oder Tunnel sind legitim." Dass einige Aktivisten mit Böllern oder Steinen schmeißen, findet Bautz ärgerlich. "Das bringt uns nicht weiter." Allerdings dürfe man nicht vergessen, so der Wissenschaftler, "dass es sich nur um vereinzelte Personen handelt".
Das bestätigt auch die Polizei Aachen. Seit dem Start der Räumung vor drei Tagen habe es zwar "vereinzelte, leichte Straftaten gegenüber Polizeibeamten" gegeben, sagt ein Polizeisprecher ntv.de. Einige Aktivisten seien auch kurzzeitig festgenommen worden - meist zur Identitätsfeststellung. "Grundsätzlich ist die Stimmung vor Ort aber friedlich geprägt." Im Minutentakt ertönt im Dorf der Appell der Einsatzkräfte, das Dorf freiwillig zu verlassen. Dem seien über 200 der Aktivisten nachgekommen. Andere, die Teil einer Sitzblockade waren, sich festgeklebt oder in der Höhe verschanzt haben, haben sich laut dem Sprecher ebenso friedlich wegtragen lassen. "Für die meisten war es einfach nur wichtig, ihren Widerstand deutlich zu machen", sagt er. "Das haben sie damit getan."
Ende der Räumung in Sicht
Wasserwerfer und Reiterstaffeln stehen zwar seit Beginn der Räumung am Ortseingang bereit, mussten aber bisher nicht eingesetzt werden. Die Chance steht derzeit offenbar gut, dass dies so bleibt: Jüngst verkündete die Einsatzstelle, dass die Räumung kurz vor dem Abschluss stehe. Sollte sich dies bewahrheiten, wäre die Räumung deutlich kürzer und friedlicher als erwartet geschehen - sowohl die Beamten als auch die Aktivisten gingen in Gesprächen von Wochen aus.
Am Großaufgebot der Einsatzkräfte in Aachen wird deutlich, dass sich die Polizei auf dieses Szenario sowie auf alle weiteren erdenklichen Risiken eingestellt hat. Dies tat sie nicht ohne Grund: Bilder von Eskalationen wie bei der Räumung des Hambacher Forstes vor rund drei Jahren galt es unbedingt zu vermeiden. Allerdings stellte die Aachener Einsatzstelle in Lützerath schon früh einen entscheidenden Unterschied fest: Die meisten Aktivisten, die für das kleine Dorf protestieren, sind weniger militant und "bürgerlicher geprägt".
Das wird auch an den Aktionen, die in und vor allem um Lützerath herum stattfinden, deutlich. Am Dorfspaziergang, der vergangenen Sonntag durch den Ort zog und mit einem Konzert der Band AnnenMayKantereit endete, nahmen Tausende Menschen aus ganz Deutschland teil - darunter Studierende, Rentner und Familien mit Kindern. Eine ähnliche "Familiendemo" kündigen das Bündnis "Unräumbar" und der Verein Campact für morgen an. "Schon jetzt haben sich mehrere tausend Menschen bei uns gemeldet, dass sie kommen wollen", sagt Bautz.
Eine Fahrradtour zog mit Fahnen und Protestschildern durch die Nachbarorte Keyenberg und Holzweiler, Senioren veranstalteten einen Gottesdienst nahe des bedrohten Dorfes und Aktivisten blockierten die Parteizentrale der Grünen in Nordrhein-Westfalen sowie den Eingang des Energiekonzerns RWE, um ihre Solidarität mit den "Lützi"-Aktivisten auszudrücken. All diese Aktionen verliefen größtenteils gewaltfrei. Sie sind ebenso Teil der Proteste in Lützerath wie jene Eskalationen mit Molotow-Cocktails und Böllern, die die Berichterstattung über die Proteste oft dominieren.
"Keinen getroffen, der Bock auf Krawall hat"
Dass das große Interesse eher auf den Protesten als auf dem eigentlichen Anliegen der Aktivisten liegt, ist üblich. Zudem ist es von öffentlichem Interesse, wenn Beamte mit Steinen und Feuerwerk angegriffen werden oder eine Situation zwischen Aktivisten und Einsatzkräften eskaliert. Allerdings gehört zu einem richtigen Gesamteindruck eben auch, an die ruhigen Orte des Geschehens zu blicken und über das Verhalten der Masse zu berichten.
So war es am ersten Tag der Räumung von Lützerath an vielen Stellen des Camps im Ortskern nicht laut und explosiv, sondern beinahe gespenstig ruhig. Die meisten Aktivisten verschanzten sich in der Höhe, die Stimmung war nach der kurzen Eskalation am Morgen, als die Beamten das Dorf stürmten, fast entspannt und ausgelassen. Als ein Vermummter vom Dach des alten Hofes "Verpisst euch, Bullen" ins Megafon brüllte, bat ihn eine junge Aktivistin, dies zu unterlassen. Sprechchöre zu "Keine Gewalt" zogen immer wieder durch das Dorf - offensichtlich an beide Seiten gerichtet.
Die Initiativen vor Ort haben sich darauf geeinigt, friedlich zu protestieren, erklärt der Sprecher des "Unräumbar"-Bündnisses, Thelen. "Ich habe noch keinen getroffen, der Bock auf Krawall hat." Die Leute, die Molotow-Cocktails geworfen haben, kenne er nicht. Thelen betont, Gewalt lehne er ab. Von den mehreren hundert Aktivisten, die das Camp zu Beginn der Räumung besetzten, schätzt er die Zahl der Radikalen auf der Basis von Berichten auf kaum höher als 30. Das eigentliche Ziel sei mit Gewalt ohnehin nicht zu erreichen. "Es geht doch hier nicht darum, dass wir gewinnen und die Polizei verliert", so der Aktivist. "Sondern darum, die Kohle unter Lützerath im Boden zu halten."
Quelle: ntv.de