Wer ist der neue Hamas-Chef? Der "Schlächter von Chan Junis" hat nichts zu verlieren


Sinwar trat nach dem 7. Oktober nicht mehr öffentlich auf.
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Einst retteten ihm israelische Ärzte das Leben, er saß jahrzehntelang in Haft, jetzt ist Jihia Sinwar das politische Oberhaupt der Hamas. Was will der Drahtzieher des 7. Oktober, der die Terrorgruppe aus einem unterirdischen Versteck heraus führt?
Zwei Tage lang verhandelten Hamas-Funktionäre in Doha über die Nachfolge ihres politischen Führers, nachdem Ismail Hanija bei einem Anschlag in Teheran getötet worden war. Mehrere Optionen seien diskutiert worden, berichtet die BBC, doch schließlich fiel die Wahl auf die prominenteste und wohl auch berüchtigtste Personalie: Jihia Sinwar, bislang Chef der Terrorgruppe im Gazastreifen und nach Überzeugung Israels Drahtzieher hinter den Anschlägen des 7. Oktober.
An Israels Prioritäten ändert der Führungswechsel zunächst nichts, Sinwar steht ohnehin ganz oben auf der Abschussliste. Als einen "wandelnden Toten" bezeichnete ihn das israelische Militär nach dem 7. Oktober, Außenminister Israel Katz schrieb nach Sinwars Beförderung auf X, dies sei "ein weiterer zwingender Grund, ihn schnell zu beseitigen und diese abscheuliche Organisation vom Angesicht der Erde zu tilgen".
Doch die Jagd auf Sinwar gestaltet sich für Israel schwierig. Während der Gazastreifen einer Trümmerwüste gleicht, führt Sinwar die Hamas aus dem Untergrund an. Seit dem 7. Oktober trat er nicht mehr öffentlich in Erscheinung, sondern hält sich aller Wahrscheinlichkeit nach im weit verzweigten Tunnelsystem unter dem Küstenstreifen versteckt. Als das Militär im Februar Sinwars Geburtsstadt Chan Junis einnahm, verbreitete es Filmaufnahmen einer verlassenen unterirdischen Unterkunft mit Dusche, Küche und einem Tresor voller Bargeld, in der Sinwar mit seiner Familie gelebt haben soll.
Hanija galt als Pragmatiker
Dieser Umstand unterscheidet ihn von Vorgänger Hanija, der bis zu seinem Tod ein komfortables Leben in Katars Hauptstadt Doha führte. Hanija ließ sich etwa vom türkischen Präsidenten Recep Tayip Erodgan in Istanbul empfangen und reiste zur Vereidigung des iranischen Präsidenten Massud Peseschkian nach Teheran, was ihm letztlich zum Verhängnis wurde. Unter Diplomaten galt Hanija als Pragmatiker und vergleichsweise moderat. "Sie haben Hanija getötet, den flexiblen Menschen, der für Lösungen offen war. Jetzt müssen sie sich mit Sinwar und der Militärführung auseinandersetzen", zitiert die BBC einen Hamas-Funktionär.
Auch wenn Hanija die offizielle Nummer eins der Hamas war, hatte Sinwar US-Geheimdiensten zufolge stets das letzte Wort, wie die "New York Times" berichtet. Seine kompromisslose Position in den Verhandlungen zum Gaza-Krieg sei ein entscheidender Grund, warum ein Deal bislang ausblieb. Laut dem Magazin "New Yorker" soll Sinwar zudem nur über Notizen und Boten kommunizieren, aus Angst, vom israelischen Militär geortet zu werden. Manchmal vergingen Tage, bis Sinwars Zustimmung oder Ablehnung die Unterhändler erreichte.
Trotz seiner herausragenden Position in der Hamas war Sinwars Kür nicht selbstverständlich. In der Vergangenheit war die Terrorgruppe bedacht darauf, ihre Politbüro-Führung im Exil zu stationieren, um auch bei Angriffen auf Gaza handlungsfähig zu bleiben. Der Abstimmung in Doha gingen laut "Neuer Zürcher Zeitung" interne Flügelkämpfe voraus. Der ehemalige Hamas-Chef Chalid Maschal soll noch versucht haben, die Wahl Sinwars zu verhindern. Dem Bericht zufolge will Maschal den iranischen Einfluss in der Hamas verringern und ist eher den Golfstaaten zugewandt, musste sich jedoch den pro-iranischen Kräften in der Führungsriege geschlagen geben. Nun konzentriert sich alle Macht auf Sinwar. Ein Mann, der nichts mehr zu verlieren hat.
Geboren im Flüchtlingslager
Der 61-Jährige hat sein Leben dem Kampf gegen Israel verschrieben. Seine Eltern stammen aus Aschkelon im heutigen Israel. Der Arabisch-Israelische Krieg 1948 und die daraus resultierende Massenvertreibung Hunderttausender Palästinenser machte sie zu Flüchtlingen. Sinwar wuchs in einem Flüchtlingslager in Gaza auf, studierte Arabisch an der Universität und kam mit 19 Jahren das erste Mal wegen "islamischer Aktivitäten" in Haft.
Sinwar gehört zur ersten Generation der Hamas, bis zum Tod ihres Gründers Ahmad Yasin verband die beiden ein enges Verhältnis. In den 1980er Jahren befehligte er eine interne Sicherheitsabteilung, deren Aufgabe es war, Kollaborateure mit den israelischen Besatzern aufzuspüren und gnadenlos zu bestrafen. Das brachte Sinwar seinen bis heute nachhallenden Beinamen ein: "Schlächter von Chan Junis".
Sinwar sei in dieser Zeit für zahlreiche "brutale Morde" verantwortlich gewesen, sagte der israelische Journalist Ehud Yaari, der ihn viermal interviewte, der BBC. "Einige davon mit seinen eigenen Händen, und er war stolz darauf und hat mit mir und anderen darüber gesprochen." 1988 verurteilte ihn Israel zu viermal lebenslänglicher Haft wegen der Ermordung mehrere Palästinenser sowie der geplanten Entführung israelischer Soldaten. Letzteres betrachtete er schon damals als wirkungsvolles Mittel, um palästinensische Gefangene in Israel freizupressen, wie aus Gerichtsdokumenten hervorgeht, die dem "New Yorker" vorliegen.
Eine "seltsame, komplexe Figur"
Während Sinwar im Gefängnis einsaß, nahm die israelische Regierung eine Bewertung seines Charakters vor. Er sei "grausam, autoritär, einflussreich und mit ungewöhnlichen Fähigkeiten wie Ausdauer, List und Manipulation ausgestattet, mit wenig zufrieden", zitiert die BBC daraus. Er habe ferner die Fähigkeit, Menschenmengen mitzureißen. Der Journalist Yaari ist sich zwar sicher, dass Sinwar ein Psychopath sei. Aber nur "zu sagen: 'Sinwar ist ein Psychopath, Punkt.' wäre ein Fehler, denn dann würde man diese seltsame, komplexe Figur übersehen." Sinwar sei "äußerst gerissen und gewitzt - ein Typ, der es versteht, eine Art persönlichen Charme an- und auszuschalten".
Laut der ehemaligen Gefängnismitarbeiterin Betty Lahat radikalisierte sich Sinwar in Haft, schwang sich zum Wortführer der inhaftierten Palästinenser auf und war gegenüber Mitgefangenen gewalttätig. Er studierte zudem intensiv die israelische Kultur und Geschichte, lernte fließend Hebräisch und Teile der Tora auswendig. Dem "New Yorker" zufolge soll er das Gefängnis als "Akademie" angesehen haben, in der er die Psychologie des Feindes erlernen konnte.
"Er ist ein sehr intelligenter Mensch, der in seine intellektuelle Entwicklung und in ein tiefgreifendes Verständnis der israelischen Gesellschaft investiert hat", sagte Lahat der israelischen Zeitung "Maariw". "Er hat im Gefängnis Teams eingesetzt, die alle israelischen Radio- und Fernsehsender abhören und Politiker verfolgen sollten. Sie hörten sich politische Analysen und diplomatische Einschätzungen an."
Als Sinwar in Gefangenschaft an Krebs erkrankte, entfernten israelische Ärzte seinen Hirntumor. Lahat habe ihn gefragt, ob er darüber dankbar sei. Demnach antwortete er, seine Versorgung sei schlichtweg ihre Aufgabe gewesen. Im Jahr 2011 kam er nach 24 Jahren vorzeitig aus der Haft frei - als einer von 1027 Palästinensern, die Israel gegen einen einzelnen im Gazastreifen festgehaltenen Soldaten eingetauscht hatte.
"Wir werden zu euch kommen"
Zurück in Gaza heiratete er, bekam zwei Kinder und legte eine steile Karriere im Machtapparat der Hamas hin. 2015 setzten ihn die USA auf ihre Terrorliste, 2017 wurde er zum militärischen Anführer der Hamas im Gazastreifen. Er bediente sich zunächst einer politisch ambivalenten Rhetorik, sprach von einer Aussöhnung mit der Fatah im Westjordanland und von einem "friedlichen Volkswiderstand" der Hamas.
Zugleich rückte Sinwar nie davon ab, Militanz und Terror als Mittel der Wahl anzusehen. Auf einer Kundgebung im Gazastreifen im Dezember 2022 sagte er: "Wir werden mit endlosen Raketen zu euch kommen, wir werden mit einer grenzenlosen Flut von Soldaten zu euch kommen, wir werden mit Millionen unserer Leute zu euch kommen, wie eine sich wiederholende Flut."
"Al-Aqsa-Flut" nennt die Hamas den Terrorangriff des 7. Oktober mit mehr als 1100 Toten. Sinwar ist nicht nur der Architekt des Massakers, er rechnete offenbar auch mit der israelischen Reaktion. Seine Strategie sei es, den Krieg im Gazastreifen so lange am Laufen zu halten, bis Israels internationales Ansehen ruiniert und sein Verhältnis zu seinem wichtigsten Verbündeten USA beschädigt ist, berichtet die "New York Times" unter Berufung auf israelische und amerikanische Geheimdienstmitarbeiter.
Als Israels Staatsfeind Nummer eins dürfte Sinwar sich ohnehin darüber im Klaren sein, wahrscheinlich getötet zu werden, selbst wenn der Krieg enden sollte. Mit seiner Wahl wolle man eine "Botschaft der Auflehnung an Israel" senden, sagte ein Hamas-Funktionär der BBC. Minuten nach der Verkündung schoss der militärische Arm der Hamas nach eigenen Angaben eine Raketensalve aus dem Gazastreifen auf Israel.
Quelle: ntv.de