Staat schützt seine Töchter kaum Die schlimmsten Gewaltorte für Frauen verbirgt das Stadtbild
29.10.2025, 19:46 Uhr
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Wem die Sicherheit von Frauen wichtig ist, muss nicht nur in die Straßen gucken, sondern auch in die Häuser.
(Foto: picture alliance/dpa)
Beabsichtigt oder nicht, die von Bundeskanzler Merz losgetretene Stadtbild-Debatte verschafft einem zu wenig beachteten Thema die nötige Aufmerksamkeit: die Sicherheit von Frauen. Ein Besuch in einem Frauenhaus zeigt, wie schlecht es darum bestellt ist.
Von außen ein Haus wie jedes andere in Berlin. Innen: der einzige Ort, der den dort lebenden Frauen Sicherheit bietet. Sicherheit, dass der Mann, vor dessen Gewalt sie geflohen sind, sie dort nicht finden kann. Die Geheimhaltung der Adresse des Frauenhauses, das RTL/ntv gemeinsam mit Bundesjustizministerin Stefanie Hubig vor wenigen Wochen besuchen durfte, ist das wichtigste Gut, das die Frauen dort haben.
Acht solcher Frauenhäuser gibt es in Berlin, ein neuntes wird gerade gebaut. Trotzdem reicht es nicht: 500 Plätze fehlen allein in der Hauptstadt. Nach Schätzungen des Europarats fehlen landesweit 14.000 Plätze. Das kann fürchterliche Konsequenzen haben: Jede Frau, die keinen Schutz vor ihrem gewalttätigen (Ex-)Partner findet, könnte als Femizid in die Statistik eingehen. Fast jeden zweiten Tag tötet ein Mann seine (Ex-)Partnerin. 270.000 Fälle von häuslicher Gewalt wurden im vergangenen Jahr gemeldet. Jedes Jahr werden es mehr.
Was Frauenrechtlerinnen schon seit langer Zeit von der Politik fordern, bekommt durch die derzeitige Stadtbild-Debatte wieder Wind: Mehr als 50 Frauen aus Politik, Kunst und Wissenschaft, fordern in einem Brandbrief an Bundeskanzler Merz Lösungen für die prekäre Sicherheitslage von Frauen. Statt Frauen als Mittel in der Migrationsdebatte zu instrumentalisieren, solle häusliche und sexualisierte Gewalt konsequenter verfolgt werden, mehr Frauenhausplätze entstehen sowie Femizide ins Gesetzbuch aufgenommen werden.
"Mehr Frauenhausplätze können Leben retten"
Der Blick hinter die schützenden Wände des Frauenhauses offenbart die schwierige Realität: Der Weg aus der Gewalt beginnt für viele Frauen mit einem Anruf bei der BIG-Hotline, der Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen. Dort wird ihnen ein Platz in einem Frauenhaus vermittelt, das möglichst nicht im selben Bezirk ihres derzeitigen Zuhauses ist. Vorausgesetzt, es gibt einen. "Wir haben in der Regel selten freie Plätze", sagt die Leiterin der BIG -Hotline im Gespräch mit ntv. "Das ist ein grundsätzliches Problem, auch in Berlin, dass es deutlich weniger Plätze gibt, als eigentlich nach der Istanbul-Konvention rechtlich vorgehalten werden müssten." Rund 60 Prozent der Frauen, die anrufen, bekommen eine Absage. Deutschland gehört zu den Unterzeichnern der vom Europarat überwachten Konvention, die Mindeststandards zum Schutz von Frauenrechten festlegt.
"Man muss sich einmal in diese Situation hineinversetzen", sagt Grünen-Politikerin Ricarda Lang, die den Brandbrief ebenfalls unterzeichnet hat, ntv.de. "Wenn ich einen gewalttätigen Partner habe, mit dem ich verheiratet und von dem ich vielleicht finanziell abhängig bin und Kinder habe, verlassen will - das ist ein riesiger, unfassbar schwieriger Schritt." Werde eine Frau wegen fehlender Plätze dann abgewiesen, steige die Wahrscheinlichkeit, dass sie in der Beziehung bleibt und damit auch die Wahrscheinlichkeit, dass es immer wieder zu Gewalt kommt. "Und im schlimmsten Fall sogar zu Totschlag oder Mord, also zu einem Femizid. Das heißt, mehr Frauenhausplätze können tatsächlich Leben retten", so Lang.
Wie so oft bei sozialen Projekten fehlt die ausreichende Finanzierung. Zwar steht nach der Istanbuler-Konvention von 2018 jeder Frau ein Platz in einem Frauenhaus zu, doch erst in diesem Jahr wurde mit dem Gewalthilfegesetz auch ein Rechtsanspruch beschlossen. Der tritt aber erst 2032 in Kraft. "Jede Kita-Mama und jede Bürgermeisterin kann erzählen, was ein Rechtsanspruch ohne Geld wert ist. Gar nichts", sagt Lang. "Diese Frauenhausplätze müssen auch finanziert werden, das Geld muss jetzt fließen. Dafür braucht es Absprachen zwischen Bund und Ländern."
Nicht alle schaffen den Absprung
Justizministerin Stefanie Hubig hat sich bereits im September mit Vertreterinnen der Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen getroffen, um über Maßnahmen zu beraten. Ein Anliegen der SPD-Politikerin ist es, das Gewaltschutzgesetz, das Frauen einen Platz in Frauenhäusern gewähren soll, auch auf Kinder auszuweiten. Vätern, die der Mutter der gemeinsamen Kinder gegenüber gewalttätig werden, soll das Sorge- und Umgangsrecht verwehrt werden können. "Damit einfach klar ist, dass Gewalt in einer Beziehung nichts zu suchen hat", so Hubig. Die Finanzierung für mehr Frauenhausplätze liege aber bei den Bundesländern. Dass Femizide als eigener Straftatbestand ins Strafgesetzbuch aufgenommen werden, will auch Hubig.
Wer einen der wenigen Plätze in einem Frauenhaus erhält, muss sich auf wenigen Quadratmetern mit anderen Frauen und Kindern arrangieren. Das Frauenhaus im südlichen Teil Berlins, das ntv.de besuchen durfte, hat Platz für 20 Frauen und 30 Kinder. Versorgen müssen die Frauen sich selbst: einkaufen, kochen, das Haus sauber halten. Die einzige Küche im Haus teilen sie sich, die Kühlschränke pro Familie sind kaum größer als ein Spind im Fitnessstudio. Tägliches Einkaufen ist unumgänglich. Die Schlafzimmer erinnern an Jugendherbergen: ein Hochbett für die Kinder, ein Schrank, ein Tisch. "Wer das über mehrere Wochen und Monate aushält, beweist Stärke", sagt die Leiterin des Hauses, Laura Herold (Name geändert).
Im Schnitt bleiben die Bewohnerinnen knapp drei Monate. Doch der Durchschnittswert trügt. "Manche bleiben nur zwei Stunden, manche kommen nach zwei Tagen bei Freunden oder Verwandten unter," sagt Herold. Drei Monate seien in keinem Fall die Regel. "Wer sein Leben wirklich ändern will und den Mann verlässt, bleibt mindestens ein Jahr." Doch längst nicht alle schaffen den Absprung aus der Partnerschaftsgewalt: 18 Prozent der Frauen, die im Frauenhaus waren, gehen zum gewalttätigen Partner zurück, nur 14 Prozent ziehen in eine eigene Wohnung. Einige Frauen brauchen mehrere Anläufe und Aufenthalte, um sich aus der gewalttätigen Beziehung zu befreien.
"Es ist ein gottverdammtes Recht"
Die wichtigste Regel im Haus lautet: Sicherheitsmaßnahmen beachten. "Niemand darf wissen, wo das Haus ist. Auch nicht die Schwester, Mutter oder Freundin", so Herold. Die Kinder dürfen ihre Freunde nicht zum Spielen einladen oder dem gewalttätigen Vater die Adresse nennen, wenn dieser noch Umgang mit ihnen hat. Trotzdem kommt es vor, dass einer von ihnen vom Aufenthaltsort seiner Ex-Partnerin erfährt. Dann muss die Polizei anrücken. Trotzdem: Die Stimmung im Haus sei meist gut, sagt Herold. Die Stärke und Kraft der Frauen, die es dorthin geschafft haben, verdiene Bewunderung. "Nur würden wir gerne noch mehr Frauen helfen." Doch dafür fehle das Geld.
Für Lang ist die Finanzierung und der Schutz von Frauen eine Frage der inneren Sicherheit. "Ein Staat, der es nicht schafft, den Frauen, die zu Hause die Hölle erleben und fliehen wollen, auch Schutz zu geben, der versagt ganz grundsätzlich in Sicherheit. Der versagt übrigens auch in innerer Sicherheit." Diese fange auf den Straßen in den Innenstädten an und endet in den eigenen vier Wänden, so Lang. "Grundsätzlich darf Schutz vor Gewalt nie etwas sein, worum Frauen fragen, im schlimmsten Fall sogar betteln müssen - sondern es ist ein gottverdammtes Recht."
Quelle: ntv.de