Noch halten die Wähler still Giorgia Melonis Pirouetten auf dünnem Eis
11.02.2023, 14:51 Uhr
Meloni am Freitag nach dem EU-Gipfel in Brüssel
(Foto: AP)
Seit fast vier Monaten regiert die Postfaschistin Giorgia Meloni Italien. Das funktioniert mehr schlecht als recht, doch zum Aufstand der eigenen Wähler kam es bislang nicht - einigen Problemen zum Trotz.
Es mag zynisch klingen, aber Giorgia Meloni sollte, wie man in Italien sagt, eine Kerze vor der Heiligen ihrer Wahl anzünden und dabei um das weitere Andauern der großen internationalen Krisen beten. Was die italienische Ministerpräsidentin nämlich fest im Amt hält, ist nicht die politische Stabilität ihrer Rechtskoalition, da bewegt sie sich eher auf dünnem Eis, sondern die Gleichzeitigkeit der großen planetarischen Krisen: Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine, die daraus folgende Energiekrise und alles vor dem Hintergrund der planetarischen Klimakrise, gerade in Italien mit schon heute dramatischen Folgen.
Im - unausgesprochenen, aber allen Beteiligten klaren - politischen Tauschgeschäft gegen die NATO-Treue der Regierung Meloni garantiert die EU Italien das finanzielle Überleben. Noch halten die Putin-Freunde Matteo Salvini und Silvio Berlusconi die Füße still, doch sobald Meloni schwach wird, dürfte es zum "Brutus"-Vorfall kommen. Im Jahre 42 vor Christus meuchelte Brutus Caesar am heutige Largo Argentina. Heute dürfte die Wiederholungstat 800 Meter weiter nördlich geschehen, hinter dem Pantheon, am Parlamentsgebäude auf dem Montecitorio-Hügel.
Foto-Shooting für zuhause
Melonis wichtigstes außenpolitisches Anliegen ist die Flüchtlingskrise, damit will sie in Italien punkten. Matteo Salvini, der alte Vorkämpfer gegen Migranten und Ausländer ohne gefüllte Brieftasche, hat schon vor Jahren das erste Feindbild der früheren "Lega Nord", die "faulen" Süditaliener, durch Migranten ersetzt. Tatsächlich sind die Zahlen der Migration groß, aber nicht so dramatisch wie 2015. Im vergangenen Jahr nahm Italien etwa 105.000 Mittelmeer-Flüchtlinge auf. Zum Vergleich: 2022 registrierte Deutschland 244.000 Asylanträge und dazu noch 1,1 Millionen Ukraine-Flüchtlinge.
Dazu muss man wissen, dass die Mehrheit der Mittelmeer-Migranten 2022 aus drei Ländern kam, mit denen Italien gute diplomatische Beziehungen unterhält: Tunesien, Ägypten und Bangladesch. Aus den Kriegsregionen Syrien und Afghanistan kamen zusammen 16.000 Flüchtlinge, nicht gerade ein nicht zu bewältigender Massenansturm. Doch anstatt mit den befreundeten Ländern Rückführungsabkommen zu schließen, erwählte die neue Rechtsregierung die privaten Rettungsschiffe als Ursache der Migration. Dabei kamen nur zehn Prozent der Flüchtlinge infolge der Rettungsaktionen der NGO-Schiffe nach Italien. Alle anderen erreichten das Land in eigenen Booten oder wurden von der Küstenwacht gerettet.
Die Meloni-Regierung hat der libyschen Milizen-Regierung in Tripolis gerade fünf Küstenwachtschiffe geschenkt, finanziert mit EU-Mitteln. Dank der Recherchen der Tageszeitung der italienischen Bischöfe, "Avvenire", ist in Italien bekannt, dass die libysche Küstenwacht fest in der Hand der Schlepper-Mafias des Landes ist. Diese schicken die Flüchtlinge auf Schlauchbooten los, gegen einige Tausend Euro pro Kopf, lassen die Hälfte durchkommen und fangen die anderen wieder ein. Diese werden dann in libysche Gefangenenlager gesteckt, wo sie erneut für ihre Befreiung zahlen müssen: Ein Perpetuum mobile der Ausbeutung, das die EU nicht nur über die Schiffe für die Küstenwache mitfinanziert, sondern auch ignoriert. Am Zustrom übers Mittelmeer werden auch weitere fünf Schiffe nichts ändern. Es ist nicht mehr als ein politisches Foto-Shooting, um zu Hause zu punkten: Man tut ja was.
Verteidigungsminister kommt aus der Rüstungsindustrie
Ein weiteres Problem Melonis ist Verteidigungsminister Guido Crosetto. In normalen Zeiten wäre er nie Verteidigungsminister geworden. Bis zu seiner Ernennung war der 59-Jährige Präsident der Waffenschmiede "Orizzonte Sistemi Navali", einem Joint Venture des Rüstungs- und Luftfahrtkonzerns Leonardo und der nationalen Werft Fincantieri, ein direkter Auftragnehmer des Verteidigungsministeriums. Zuvor war Crosetto acht Jahre lang direkt Top-Berater von Leonardo. Ein politisches Unding. Doch der enge Freund von Giorgia Meloni ist einer der Gründer ihrer Partei "Fratelli d´Italia" (FdI) und musste einfach an Bord genommen werden.
Angesichts der russischen Invasion in der Ukraine herrscht dazu allgemeines politisches Stillschweigen, weil Crosetto als ehemaliger Rüstungsmanager fachlich qualifiziert ist. Wer in Italien von einem möglichen "Interessenkonflikt" sprcht, dem droht Crosetto mit Verleumdungsklagen. Das ist das Klima. In Europa hört man kein böses Wort über ihn, weil er zu den überzeugten Unterstützern der Ukraine gehört. Verständlicherweise.
Crosetto ist aber Melonis geringstes Problem. Das Klima in der Koalition vergiften täglich ihre "Partner" Salvini und Berlusconi. Die beiden können es nicht verknusen, die zweite oder dritte Geige spielen zu müssen. Ihnen kommt zupass, dass beinahe täglich die neofaschistischen Umtriebe von Meloni-Vertrauten wieder hochgespült werden.
Vize-Minister trug Nazi-Uniform
Es ist gar nicht die böse, ewig misstrauische Auslandspresse, die überall Neofaschisten sieht. Nein, zuletzt geschah es während des Live-Übertragung des Sanremo-Festivals, ein Zuschauermagnet Italiens schlechthin im italienischen Fernsehen: Da sahen 20 Millionen Italiener den Sänger und Influencer Fedez ein Foto des heutigen Vize-Ministers Galeazzo Bignami in Nazi-Uniform hochhalten und zerreißen.
Bignami hatte sich vor zwanzig Jahren als Nazi verkleidet, als "Scherz" bei einem Junggesellenabend. Wenn es denn nur ein Einzelfall unter den FdI-Kameraden wäre, könnte und sollte man den unpassenden Scherz dem heutigen Vizeminister nicht nachtragen. Doch Bignami ist kein Einzelfall.
Die Fratelli d'Italia ("Brüder Italiens") wurden 2012 als Abspaltung der Partei Il Popolo della Libertà ("Das Volk der Freiheit") gegründet, einem Zusammenschluss vor allem von Berlusconis Forza Italia ("Vorwärts Italien") und der postfaschistischen Partei Alleanza Nazionale. "Postfaschistisch" war die AN, weil sie 1995 als Nachfolgerin der neofaschistischen Partei Movimento Sociale Italiano gebildet wurde - deren Flamme tragen die Fratelli bis heute im Parteiwappen. Das MSI wiederum wurde 1946 von Mussolini-Anhängern und ehemaligen Mitgliedern seiner Partei gegründet.
Vor zehn Jahren waren die FdI eine Mussolini-nostalgische radikale Splitterpartei, mit ersten Wahlergebnissen zwischen ein und zwei Prozent, gegründet von Mitgliedern der Jugendorganisation der neofaschistischen MSI. Ex-Radikale im Dauerkampfmodus, denen damals Provokation zu extrem war, um von sich reden zu machen.
Einer schwatzt, die Staatsanwaltschaft ermittelt
Kein Tag ohne neue Peinlichkeiten. Voll nach hinten los ging der Versuch von Justiz-Staatssekretär Giovanni Donzelli, der den Gefängnis-Besuch von Abgeordneten der Opposition bei dem inhaftierten Anarchisten Alfredo Cospito zu einem Angriff auf die Sozialdemokraten ummünzen wollte. Dazu verwendete Donzelli Informationen, die ihm sein FdI-Kollege Andrea Delmastro am morgendlichen, gemeinsamen Küchentisch verraten hatte, wie dieser selber eingestand.
Cospito befindet sich seit Wochen im Hungerstreik gegen die Isolationshaft. Delmastro berichtete Donzelli von im Gefängnis abgehörten Gesprächen, denen zufolge der Anarchist mit Mafia-Bossen einen "gemeinsamen Kampf gegen die Isolationshaft" führen wolle. Die linken Besucher hätten somit, das war der Vorwurf Donzellis, Terroristen und Mafiosi politisch unterstützt.
Peinlich ist daran nicht, dass zwei Politiker in einer gemeinsamen WG wohnen. Peinlich, und mutmaßlich auch eine Verletzung der Dienstpflichten beider, ist, dass dienstlich erworbene Kenntnis der Abhörung im Gefängnis über den Umweg einer Rede im Parlament öffentlich gemacht wurde. Delmastro ist Direktor der italienischen Gefängnisverwaltung und sollte bestimmte Geheimnisse für sich behalten. Der Fall liegt nun wegen des Verdachts auf Bruch des Ermittlungsgeheimnisses bei der römischen Staatsanwaltschaft.
Eine politische Dummheit. In der Rolle als Diener des Staates, als Vertreter einer Nation, scheinen viele Kameraden Melonis noch nicht angekommen zu sein. Dennoch: Meloni verteidigte ihre Parteifreunde. Delmastro war auch ihr langjähriger Anwalt.
Sympathie für einen SS-Mörder
Delmastro hat zudem eine tiefschwarze Vergangenheit - Schwarz ist in Italien die Farbe der Faschisten, nach den Uniformen Mussolinis. Ende der 1990er-Jahre postete Delmastro in sozialen Medien Fotos von sich, in denen er das T-Shirt einer Nazi-Rock-Band namens "Gesta" trug, die unter anderem den "Capitano" hochleben ließ, und dessen "Befreiung" aus italienischer Haft forderte. Mit dem "Hauptmann" war SS-Hauptsturmführer Erich Priebke gemeint, der 1997 für seine Beteiligung an der Ermordung von 355 italienischen Gefangenen beim Massaker in den Ardeatinischen Höhlen am 24. März 1944 zu lebenslanger Haft verurteilt worden war. Zu dieser Vergangenheit bis heute: kein Wort der Entschuldigung bei den Opfern, nichts.
Bis heute kein Wort der Erklärung auch von Melonis Schwager Francesco Lollobrigida, heute Landwirtschaftsminister, der noch 2012 ein Mausoleum zu Ehren des größten italienischen Kriegsverbrechers in Affile bei Rom einweihte: Marschall Rodolfo Graziani war für den Tod Zehntausender Zivilisten in Libyen und die Gasangriffe in Äthiopien verantwortlich, ein echter Massenmörder und nach dem Krieg ein Mitgründer der MSI.
Die Wurzeln sind noch lebendig
Kaum hatte sich die über die Parteigrenzen einheitliche Empörung über den Umgang der beiden FdI-Politiker mit hochsensiblen Informationen aus Anti-Mafia-Ermittlungen gelegt, kam eine neue Meldung: Der Präsident des italienischen Senates, Ignazio La Russa, sagte, dass er die Mussolini-Büste, die er bei sich zuhause aufgestellt habe, sowie weitere Erinnerungsstücke aus faschistischer Zeit wie Fotos und Medaillen auf keinen Fall weglegen würde. Es seien "Erinnerungsstücke" seines Vaters.
"Noch immer lebendige Wurzeln", so hatte La Russa seine Zeit in der MSI genannt. Der Vater von Ignazio La Russa, Antonio La Russa, war zeitlebens bekennender Faschist, Gründer der Nachfolge-Organisation der Mussolini Partei, Parlamentarier der Neofaschisten, deren Name "Movimento Sociale Italiano" eine direkte Anlehnung an den Namen der faschistischen Republik von Hitlers Gnaden, "Repubblica Sociale Italiano", war. Vom Inhaber der zweithöchsten Position im italienischen Staat sollte man erwarten, dass der Eingang seiner Wohnung nicht mit Medaillons und Büsten des größten Feindes der Demokratie geschmückt ist.
Die italienische Verfassung ist ausdrücklich demokratisch und antifaschistisch. Praktische Auswirkungen hat das nicht. Faschist gewesen zu sein, Sympathien für Mussolini zu haben oder den Marsch auf Rom zu feiern, ist "normal" geworden.
Die alte MSI musste 1995 unter ihrem damaligen Parteisekretär Gianfranco Fini dem Faschismus noch auf einem Sonderparteitag abschwören, um regierungsfähig zu werden. Fini löste die MSI auf und gründete die Alleanza Nazionale. Berlusconi rühmte sich jahrelang, dass er die Neofaschisten demokratisiert habe. Heute ist er Juniorpartner einer Regierungschefin, die es nicht mehr für nötig hält, dem Erbe des Mussolini-Regimes offiziell zu entsagen.
Vor der Opposition muss Meloni keine Angst haben
Die Opposition im Parlament protestiert derweil, aber Meloni muss sich darüber nicht den Kopf zerbrechen. Die Sozialdemokraten des "Partito Democratico" (PD) üben sich wieder einmal in der unter Linken Italiens bestgeübten Disziplin der Selbstzerlegung. In den Umfragen liegen sie etwa bei 15 Prozent. Die einst vom Komiker Beppe Grillo im Internet gegründete Protestbewegung der "Fünf Sterne" (M5S) hat sich zum Interessenwahrer der Arbeitslosen des Südens gewandelt, ist im italienischen Armenhaus der Südregionen die relativ stärkste Partei geworden, landesweit sogar wieder stärker als der PD, will aber mit dem PD kein Bündnis schließen.
Der ehemalige PD-Parteisekretär und frühere Bürgermeister von Florenz, Matteo Renzi, hat eine neue Partei gegründet und sich mit dem ehemaligen Ferrari-Manager Carlo Calenda verbündet. Er präsentiert sich als liberale Kraft der Mitte und hofft, Berlusconis Partei "Forza Italia" zu beerben, wenn deren Gründer eines Tages abtritt. Mit den Grillo-Anhängern will er nichts zu tun haben. Also blockieren sich die drei Oppositionsparteien gegenseitig, obwohl sie zusammengerechnet nach Umfragen die Mehrheit der Italiener hinter sich haben.
Noch hält der Bund
Die wahre Gefahr für die Regierung Meloni geht daher nicht von der Opposition und nicht von einer Mussolini-Nostalgie aus, sondern von der eigenen Unfähigkeit, einen komplexen Regierungsapparat zu leiten. Meloni wollte schnell regieren und alles anders machen. Stattdessen scheiterte sie mit praktisch allen "Sofort-Dekreten", die ultranationale Wähler ansprechen sollten.
Spontane Rave-Partys sollten unmittelbar nach Regierungsantritt verboten werden. Das Dekret war juristisch so schlecht gemacht, dass es im Parlament versenkt wurde. Dann sollten die verhassten NGO-Rettungsschiffe beschlagnahmt werden. Auch das scheiterte, weil die EU-Kommission an die geltenden Normen der See-Rettungskonventionen erinnerte. Was blieb, war, die Seenotretter mit langen Fahrten in von Linken regierte Küstenstädte zu drangsalieren. Ein FdI-Gesetzesvorschlag, wonach die Eizelle schon unmittelbar nach der Befruchtung juristisch als schutzwürdiger Mensch definiert werden sollte, wurde ebenfalls sofort versenkt. Juristisch war das Verbot, das jede Art von Abtreibung unter Mordanklage gestellt hätte, unhaltbar, Ausfluss der Scharfmacher-Ideologie einer kleinen ultrakatholischen Sekte.
Die FdI-Leute an der Regierung sind "ganz offenkundig unfähig, einen Staatsapparat sachgerecht zu leiten", wie Stefano Feltri, Chefredakteur der Tageszeitung "Domani", schreibt: "Politische Treue steht dort an allererste Stelle und deswegen kommt es zu ständigen Konflikten mit den Experten in allen Ministerien. Die Meloni-Leute haben keine Regierungserfahrung, nicht mal auf niedrigster Ebene. So werden die einfachsten Vorlagen nicht vorangebracht, weil sie im Dauerkonflikt mit Juristen und Verwaltungsfachleuten liegen."
Seltsam ist: Trotz des Scheiterns der rechtsnationalen Schnell-Dekrete kam es nicht zum Aufstand der eigenen Wähler. Melonis Wählerschaft scheint überwiegend doch nicht so rechtsextrem zu sein wie die "Brüder Italiens". Haben die Wähler in ihrer Verzweiflung vielleicht doch nur auf Meloni gesetzt, weil sie "die Neue" war, das letzte noch nicht ausprobierte Angebot? Einiges spricht für diese Sicht. Seit Anfang der 1990er-Jahre, seit dem Zusammenbruch der Christdemokraten und Sozialisten im großen Korruptionsskandal "Mani pulite", saubere Hände, hat Italien immer wieder kometenhafte Aufstiege von Neuparteien erlebt, die wenige Jahre später abstürzten. Mit des Schicksals Mächten ist der Bund bekanntermaßen nicht ewig zu flechten. In Italien ist dieser Bund besonders kurzlebig.
Quelle: ntv.de