Nach Afghanistan-Desaster Hat Joe Biden kein Gespür für Außenpolitik?
17.09.2021, 19:47 Uhr
Joe Biden hat sich für mehrere außenpolitische Entscheidungen im Nachhinein entschuldigt.
(Foto: picture alliance / abaca)
Joe Biden durchlebt nach der Afghanistan-Katastrophe seine erste große politische Krise als US-Präsident. Es ist nicht seine erste schwere außenpolitische Fehleinschätzung, sagen Kritiker - und sehen darin ein Muster. Fehlt es Biden an strategischen Fähigkeiten?
Joe Biden wird nachgesagt, ein gutes Gespür für Menschen zu haben, für Kommunikation. Empathisch und sensibel sei der 46. amerikanische Präsident, heißt es immer wieder von Weggefährten, aber auch von vielen unabhängigen politischen Beobachtern. Doch der Demokrat habe auch ein großes Problem: Ihm fehle es an strategischem Gespür, kritisieren Gegner und auch viele Journalisten. Und das werde vor allem bei seiner Außenpolitik deutlich.
"Ich würde das so in dieser Härte nicht formulieren", sagt David Sirakov, Politikwissenschaftler und Direktor der Atlantischen Akademie in Kaiserslautern, im ntv-Podcast "Wieder was gelernt". Jedoch gebe es "sicherlich Beispiele, wo Biden selbst zugegeben hat, dass er sich dort falsch entschieden hat, dass er Abstimmungen oder Entscheidungen mitgetragen hat, die er letzten Endes retrospektiv so nicht nochmal mittragen würde."
So sprach sich Biden 1991 gegen eine US-Beteiligung am Golfkrieg aus, nachdem der Irak in Kuwait einmarschiert war. Dabei gilt dieser Militäreinsatz in der amerikanischen Öffentlichkeit als einer der erfolgreichsten in der amerikanischen Geschichte. Diese falsche Einschätzung bereute Biden später. 1998 forderte er dann zum Sturz Saddam Husseins auf, dem Machthaber des Irak. "Es gibt nur einen Weg, um Saddam Hussein auszuschalten. Wir müssen es alleine tun. Und dafür brauchen wir Leute in Uniform, die in der Wüste unterwegs sind und Saddam zu Fall bringen", sagte Biden damals in einer Senatsanhörung.
Biden bereute falsche Einschätzungen
Anfang dieses Jahrtausends stand er außenpolitisch schließlich eng an der Seite des damaligen US-Präsidenten George W. Bush. Er stimmte 2002 dem Irak-Krieg zu, galt in der Debatte als Hardliner innerhalb der demokratischen Partei - Jahre später bezeichnete er aber auch diese Haltung als Fehler. Biden habe damals gegen die eigene Partei gearbeitet und das Land in einen grundlosen Krieg getrieben, heißt es heutzutage von kritischen Demokraten. "Da waren sich die Demokraten nicht sehr einig. Biden hatte dafür gestimmt, viele andere demokratische Senatoren dagegen. Aber es gibt später auch durchaus Beispiele aus der Zeit der Obama-Administration, wo er sich für einen etwas pragmatischeres Vorgehen ausgesprochen hat, was wiederum auch nicht immer der Mehrheitsmeinung der Demokraten entsprach, so David Sirakov"
In seiner Zeit als Vizepräsident unter Barack Obama sah Biden aber auch nicht immer glücklich aus, was die Außenpolitik betrifft. 2011 zogen er und Präsident Obama die amerikanischen Soldaten aus dem Irak ab. Biden meinte, der Irak "könnte eine der größten Errungenschaften dieser Regierung sein". Doch in Wahrheit war das Land zu dem Zeitpunkt völlig instabil - und ist es bis heute. Seit zehn Jahren bekämpfen sich die religiösen Gruppen im Land, Anschläge sind fast schon an der Tagesordnung. Schon kurze Zeit nach dem Abzug 2011 wurden amerikanischen Soldaten wieder in den Irak geschickt.
Im Dezember 2011 erregte Biden auch deshalb großes Aufsehen, weil er sagte, dass "die Taliban an sich nicht unser Feind sind". Wenn die Taliban aber in der Lage seien, die afghanische Regierung zu stürzen, mit denen die USA zusammenarbeiten, "dann wird das zu einem Problem für uns."
"Außenpolitisch nicht klug verhalten"
Und genau das ist es geworden: Zehn Jahre später, Biden ist mittlerweile Präsident, holt er die letzten amerikanischen Soldaten aus Afghanistan nach Hause, mit einem hohen Preis: Die Taliban haben in Afghanistan wieder die Macht übernommen. "Wenn wir uns anschauen, welche Wandlung die Vereinigten Staaten insbesondere im Innern nach 9/11 genommen haben, ist es sicherlich auch aus Sicht der Vereinigten Staaten nicht zu früh, sich aus Afghanistan und dem Irak verabschiedet zu haben und zu sagen: Wir müssen unser nationales Interesse neu justieren und stärker darauf achten, dass wir nicht zurückbleiben in all diesen Auseinandersetzungen um 9/11 und die Kriege, die daraufhin folgten." Dieser Gedanke treibe die Biden-Regierung an, schätzt Sirakov ein.
Die USA haben die Taliban und deren militärische Schlagkraft offenbar unterschätzt und zugleich die Verteidigungskraft des afghanischen Militärs überschätzt. Das habe zu diesem Desaster und dem Eindruck geführt, "dass man über 20 Jahre hinweg nichts erreicht hat", analysiert David Sirakov.
Das Magazin "The Atlantic" fragt deshalb, ob es eine einheitliche Theorie dafür gibt, "warum Biden in wichtigen außenpolitischen Fragen so konsequent falsch liegt"? Die Antwort: Mangelnde strategische Fähigkeiten. David Sirakov teilt diese Einschätzung im Podcast aber nicht ganz: "Ich bin ein bisschen hin- und hergerissen. Es gibt sicherlich Beispiele, wo Biden sich außenpolitisch nicht gerade strategisch klug verhalten und nicht sehr weit in die Zukunft gedacht hat. Aber das haben währenddessen auch sehr viele andere nicht, beispielsweise damalige Mitglieder der Bush-Administration." Deren Plan der Demokratieförderung im Irak und in Afghanistan sei "vollständig gescheitert und war eine aus heutiger Sicht völlige Fehleinschätzung", so der US-Experte.
Biden "leichter kritisierbar"
"Wieder was gelernt" ist ein Podcast für Neugierige: Warum wäre ein Waffenstillstand für Wladimir Putin vermutlich nur eine Pause? Warum fürchtet die NATO die Suwalki-Lücke? Wieso hat Russland wieder iPhones? Mit welchen kleinen Verhaltensänderungen kann man 15 Prozent Energie sparen? Hören Sie rein und werden Sie dreimal die Woche ein bisschen schlauer.
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Mit Blick auf Afghanistan habe es für Biden "nur schlechte Optionen" gegeben, meint Sirakov. Nach 20 Jahren Krieg müssten sich die Amerikaner eingestehen, dass sie ihre Ziele in Afghanistan nicht erreicht haben, sagt Sirakov. Und den Truppenabzug hatte Bidens Vorgänger Donald Trump ursprünglich schon für den 1. Mai vorgesehen, Biden hat ihn nur verlängert. Zudem steht die Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung hinter dem Ende des Einsatzes.
Die Art und Weise lässt Joe Biden aber jetzt ziemlich schlecht dastehen. Der Abzug verlief völlig chaotisch und die Taliban drehen die Errungenschaften der letzten 20 Jahre innerhalb weniger Tage zurück. Man könne "vielleicht darüber diskutieren", ob Biden "den ein oder anderen außenpolitischen Fehler mehr gemacht hat als vergleichbare Politiker", sagt Sirakov. Jedoch müsse man auch sehen, dass Biden "ein Urgestein der US-Politik" sei.
"Wenn man solange als Senator, Vizepräsident und jetzt als Präsident in der Politik ist, hat man Tausende Entscheidungen gefällt. Und man hat natürlich einen Track-Record, man kann immer nachschlagen, was war richtig und was war falsch. Das konnte man bei Trump nicht, da musste man in sein Unternehmen schauen und gucken, was er für Entscheidungen getroffen hat." Als Berufspolitiker sei Biden "viel leichter kritisierbar", findet Sirakov.
Wer Entscheidungen treffen muss, macht Fehler. Diese Fehler können unterschiedliche Konsequenzen haben - in diesem Fall wiegen sie ziemlich schwer. Weil viele Bewohner Afghanistans den Taliban jetzt schutzlos ausgeliefert sind.
Quelle: ntv.de