Politik

Israel-Hamas-Krieg nur Anlass Hinter den Uni-Protesten tobt ein Machtkampf

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
Polizisten und Demonstranten stehen sich an der Universität von Kalifornien gegenüber. Das Protestlager ist inzwischen aufgelöst.

Polizisten und Demonstranten stehen sich an der Universität von Kalifornien gegenüber. Das Protestlager ist inzwischen aufgelöst.

(Foto: AP)

In den USA sind von Ost bis West die Hochschulleitungen und die Polizei mit Härte gegen propalästinensische Proteste vorgegangen. Die Sicherheitskräfte nahmen Studierende fest, lösten Lager auf, beendeten Besetzungen. Doch das ist nur ein Teil der Geschichte.

In den vergangenen Wochen sind die Proteste gegen den Krieg in Nahost an den US-Hochschulen in Gewalt eskaliert. Die Polizei rückte aus, ging immer rigoroser gegen Demonstranten vor, beendete Besetzungen, löste Lager auf. Landesweit hat sie in den vergangenen vier Wochen mindestens 2300 Personen an mehr als 40 Hochschulen festgenommen. Größtenteils sind es propalästinensische Proteste gegen den Israel-Hamas-Krieg, aber auch proisraelische Demonstrationen, die auf Universitätsgelände stattfinden.

Die Zelte, Barrikaden und Festnahmen sind exemplarisch für einen gesellschaftlichen Konflikt, der sich um die Frage dreht, was an Hochschulen vor sich gehen darf. Wie dürfen Debatten auf einem Campus geführt werden und wer bestimmt darüber? Sollte sich die Politik einmischen oder heraushalten? Seit der Krieg in Nahost im Oktober begann, findet an den Universitäten in den USA über diese Fragen ein Machtkampf zwischen Studierenden und den Hochschulleitungen statt.

Auf die große landesweite Bühne gezerrt wurden die innerakademischen Spannungen im Dezember. Der republikanisch kontrollierte Bildungsausschuss des Repräsentantenhauses befragte die Präsidenten von vier privaten Elite-Universitäten fast schon inquisitorisch: Was tue die Hochschule gegen die Proteste und Antisemitismus? Bei den - im Fernsehen übertragenen - Anhörungen in Washington machten die Präsidentinnen von Harvard und der Pennsylvania University eine schlechte Figur und mussten in der Folge zurücktreten. Mindestens zwei Milliardäre und Großspender hatten hinter den Kulissen ihre Muskeln spielen lassen, schreibt die "New York Times".

Bauernopfer im Kongress

Auch Nemat Shafik war vorgeladen, aber die Präsidentin der Columbia Universität in New York City verzögerte ihren Auftritt bis zum 17. April. Sie hatte sich beraten und schulen lassen, bevor sie sich stellte. Zu diesem Zeitpunkt gab es schon monatelange interne Diskussionen um die Äußerungen und Veröffentlichungen mehrerer namentlich bekannter Professoren an der Hochschule: Hatten sie sich antisemitisch geäußert oder blieben sie im Rahmen akademischer Freiheit?

Im Kongress löcherten die Abgeordneten Shafik mit Fragen zu den Professoren. Diese verteidigte sich, mehrere seien bereits aus den Klassenräumen verbannt worden. Dann wurde es kurios: Vor laufenden Kameras versicherte die Präsidentin, dass ein bestimmter Lehrbeauftragter wegen Pro-Hamas-Äußerungen "nie wieder an der Columbia lehren" werde. Es roch nach einem Bauernopfer, mit dem Shafik ihren eigenen Kopf retten wollte. Von akademischer Freiheit war in der Anhörung nie die Rede.

Kritiker werfen Nemat Shafik vor, ihr fehle Erfahrung im akademischen Umfeld.

Kritiker werfen Nemat Shafik vor, ihr fehle Erfahrung im akademischen Umfeld.

(Foto: AP)

Währenddessen errichteten in New York propalästinensische Demonstranten ihre Zelte auf dem Campusrasen der Columbia und machten sich mit Schildern, Megafon und Parolen bemerkbar: Sie forderten, das Geld der Universität aus Israel abzuziehen. Der Protest war friedlich und hielt sich größtenteils an die übliche Regel, dass er nicht den Hochschulbetrieb einschränken darf.

Viele von ihnen blieben jedoch nur eine Nacht: Am Tag nach ihrer Anhörung rief Shafik die Polizei auf den Campus, welche in Schutzausrüstung aufmarschierte und über 100 Personen festnahm. Die Universitätsleitung suspendierte die Studierenden und warf sie aus ihren Wohnräumen. Sie wollte offenbar ein Exempel statuieren. Doch der Versuch, die Demonstrationen in Manhattan im Keim zu ersticken, verursachte das komplette Gegenteil. Im ganzen Land solidarisierten sich Studierende und Aktivisten. An Dutzenden weiteren Universitäten schossen nun Lager aus dem Boden.

"Das war der Kipppunkt"

Die Proteste haben sich seither aufgeschaukelt. Demonstranten beharren vielerorts auf ihren Forderungen nach Divestment, also dem Abzug von Investitionen aus Israel. Manche Lehrkräfte schließen sich an. Verhandlungen laufen meist ins Leere. Stattdessen baten Hochschulen die Polizei darum, Lager aufzulösen. Die bislang größte gewaltsame Auseinandersetzung fand an der öffentlichen Universität von Kalifornien statt. Propalästinensische und proisraelische Demonstranten lieferten sich in der vergangenen Woche stundenlang Kämpfe mit improvisierten Rüstungen, Schlagwaffen und Feuerwerk. Erst nach mehreren Stunden schritt die Polizei ein.

Das Zeltlager auf dem Campus der Columbia Universität in Manhattan vor der abschließenden Räumung.

Das Zeltlager auf dem Campus der Columbia Universität in Manhattan vor der abschließenden Räumung.

(Foto: REUTERS)

"Die ersten Festnahmen haben jeden wütend gemacht", sagt ein Mitarbeiter der Columbia Universität, der aus Sorge vor disziplinarischen Maßnahmen seinen Namen nicht veröffentlicht sehen möchte: "Das war der Kipppunkt. Warum legen sie sich mit unseren Studierenden an?" Wie diese habe auch das Universitätspersonal keine gemeinsame Position zu Israel und Palästina gehabt. Doch nun sei es geeint: in der Ablehnung gegen die Maßnahmen der Universitätsleitung. Dem Mitarbeiter zufolge geht es ums Prinzip. "Werden akademische Debatten jetzt also von der Polizei entschieden?", fragt er frustriert.

Es sei "herzzerreißend" zu sehen, wie dieser zuvor sichere Ort und seine Werte behandelt würden. "Freie Forschung, Dinge unter dem eigenen Namen ohne Angst sagen zu können. Diese Vereinbarung hat Shafik gebrochen." Der Campus müsse wie ein großer Klassenraum behandelt werden, wo es laut und provokant werden dürfe. "Dort schickt auch niemand die Polizei hinein, weil diskutiert wird." Doch die Leitung interessiere sich nicht für die Bildung, sondern für die Zahlen sowie die Ranglisten, in denen die Universität oben stehen solle.

Elite-Universitäten und Investoren

Harvard, Pennsylvania, Columbia - das sind drei der acht sogenannten Ivy-League-Universitäten in den USA; private Elite-Universitäten im Nordosten des Landes, die insgesamt ein Vermögen von mindestens 183 Milliarden US-Dollar verwalten. Gemeinsam zählen die Hochschulen 140.000 Studierende bei 23.500 akademischen Angestellten. Alle hängen vom Wohlwollen großer Spender ab. Zugleich erheben die Universitäten hohe Studiengebühren.

An vielen Universitäten sind die Entscheidungen der privaten Universitätsleitungen undurchsichtig. In der Columbia sitzt ein Kuratorium an den Schalthebeln, das sich größtenteils selbst aufstellt, die Präsidentin kontrolliert und über den riesigen Besitz der Hochschule bestimmt. Im vergangenen Jahr verwaltete die "Columbia Investment Management Company" eigenen Angaben zufolge 18,7 Milliarden Dollar; 774 Millionen der 5,9 Milliarden Dollar Jahresausgaben waren demnach Gewinne aus dem Investmentbereich. Die Hochschule ist zudem einer der größten Immobilienbesitzer in New York City.

Israel-Unterstützer argumentieren, die Forderung der propalästinensischen Studierenden nach Divestment habe eine antisemitische Grundlage: Schließlich sei Israel nicht das einzige Land weltweit, das Menschenrechte verletzte - aber das einzige jüdische. Warum sollten die Universitäten also ausgerechnet dort ihr Geld abziehen? Divestment ist auch eine Kernforderung der umstrittenen BDS-Bewegung.

Die New Yorker Polizei stieg durchs Fenster ein und räumte das besetzte Gebäude auf dem Campus der Columbia Universität.

Die New Yorker Polizei stieg durchs Fenster ein und räumte das besetzte Gebäude auf dem Campus der Columbia Universität.

(Foto: REUTERS)

Nach der ersten Machtdemonstration beruhigte sich die Lage in Manhattan nicht, im Gegenteil. Fast täglich fanden vor den Toren der Columbia Proteste statt, die sich mit den Studierenden auf dem Campus solidarisierten. Als Demonstranten ein Gebäude besetzten, ließ die Universitätsleitung nur noch unbedingt nötige Beschäftigte und eigene Studierende aufs Gelände. Verhandlungen zwischen Leitung und Protestierenden liefen ins Leere. Irgendwann rückte wieder die Polizei an, beendete die Besetzung gewaltsam und nahm erneut mehr als 100 Personen fest. Danach löste sie auch das Zeltlager komplett auf.

Härte von Anfang an

An der nahen New York University, eine weitere wichtige private Hochschule der Stadt, griff die Polizei ebenfalls mehrfach hart durch, nahm Aktivisten fest und räumte ein Protestlager. Anfang Mai, ein Hochschulgebäude im südlichen Manhattan, fünfter Stock. Ein paar Studierende lesen in Stille; blitzblanke Glastüren und helle Farben strahlen Ruhe aus. Eine der Bürotüren ist gepflastert mit Zetteln und Postern über Meinungsfreiheit. Dahinter sitzt Robert Cohen, Professor für Geschichte, akademische Bildung und soziale Proteste an seinem Schreibtisch, eng umgeben von überquellenden Regalen und gestapelten Büchern.

"Studierendenbewegungen waren in den USA schon immer unbeliebt", erklärt er. Der auslösende Polizeieinsatz an der Columbia zeige jedoch ungewöhnliche autoritäre Tendenzen: "Das ist eine sehr hitzige Reaktion, obwohl die Studierendenproteste im Vergleich zu den 1960er Jahren sehr moderat sind." 1968 etwa seien fünf Gebäude besetzt worden, bevor die Polizei anrückte. Cohen forscht unter anderem über die damaligen Proteste gegen den Vietnamkrieg. Diese schaukelten sich aus Frustration über die US-Beteiligung über viele Jahre auf, bevor die Gewalt 1970 ihren Höhepunkt erreichte. Die Polizei erschoss mehrere Studierende.

Üblich sei heutzutage, Proteste nur dann aufzulösen und Teilnehmer zu verweisen, wenn es den Universitätsbetrieb massiv störe oder gegen Regeln und Gesetze verstoße, sagt Cohen. Aber die derzeitigen, die seien eher vergleichbar mit den friedlichen Anfängen vor rund 60 Jahren. Wenn Politiker heute eine harte Hand gegen Studierende fordern, so Cohen, dann stehe das in dieser Tradition eines kulturellen Konservatismus, mit dem Motto: "Halt die Klappe und lerne." Dies habe zur aktuellen Bewegung geführt.

Professor: Fehlende studentische Beteiligung als Problem

Cohen erinnert sich an ein martialisches Zitat von Ronald Reagan, der damals die Anti-Kriegsproteste in Kalifornien beenden wollte: "Wenn es ein Blutbad braucht, lasst es uns hinter uns bringen", habe der spätere US-Präsident getönt. "Keine Beschwichtigungspolitik mehr." Das aktuelle Problem an vielen US-Universitäten sei die fehlende studentische Beteiligung, meint der Professor. "Wenn es keine Abstimmungsmöglichkeit gibt, geht man raus auf die Straße, um gehört zu werden." Die Eskalation sei die Folge. "Das liegt am Elitedenken der Universität."

Mehr zum Thema

Der Professor hält die Tendenz der Romantisierung palästinensischer Interessen für problematisch, dazu vermummte Demonstranten, die Fenster einschmeißen und Barrikaden errichten, was es fast unmöglich mache, dass sie breite gesellschaftliche Unterstützung bekämen. Anderseits zeigt Cohen sich besorgt über die autoritären Tendenzen, die er als Folge der Präsidentschaft von Donald Trump sieht. Konservative Medien stellen die Demonstranten schon seit Monaten als "woke" Gefahr, als außer Kontrolle geratene antisemitische Proteste von Linken und Demokraten dar, gegen die nur Härte helfe. Die studentische Bewegung, laut Cohen die größte im 21. Jahrhundert, hat jedoch eines erreicht: Es wird kritischer über den Krieg zwischen Israel und Hamas geredet.

Einige wenige Hochschulen haben sich mit den Demonstranten geeinigt. An der Brown University, einer weiteren Universität der Ivy League, sollen Studierende nun Argumente für ein Divestment einreichen, worüber der Vorstand dann im Oktober entscheidet. Es ist unklar, wo überall die Universität ihr Geld angelegt hat. Für 96 Prozent ihres Vermögens hat die Brown University externe Vermögensverwalter und Investoren beauftragt. Mehrere Großspender sagten der "New York Times", sie würden ihre Zuwendungen kürzen oder komplett einstellen, sollte die Universität den Forderungen nachgeben. Es wäre also überraschend, sollten die Studierenden Erfolg haben. Ihren Protest haben sie eingestellt.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen