"Monumentaler Mangel an Mitgefühl" Kapitän von Flüchtlingsboot festgenommen
21.04.2015, 05:57 Uhr
Gespenstische Szenen im Hafen von Catania: Das Küstenwachschiff "Bruno Gregoretti" liegt festgemacht an der Pier, die Überlebenden der Katastrophe erreichen Europa.
(Foto: picture alliance / dpa)
Zwei Schlepper entgehen der Schiffskatastrophe im Mittelmeer mit rund 800 Toten. Die beiden Männer befinden sich in Gewahrsam der Justiz, heißt es aus Italien. In Libyen warten angeblich noch eine Million Menschen auf die Überfahrt.
Die italienische Polizei hat den tunesischen Kapitän und ein syrisches Besatzungsmitglied des vor der libyschen Küste gekenterten Flüchtlingsschiffes festgenommen. Sie befanden sich den Angaben zufolge unter den insgesamt nur 28 Überlebenden der Katastrophe, bei der am vergangenen Wochenende vermutlich mehr als 750 Menschen im Mittelmeer ertranken. Der Großteil der Überlebenden traf am späten Montagabend an Bord eines Küstenwachschiffs im Hafen der sizilianischen Stadt Catania ein. Ein weiterer Überlebender war zuvor bereits per Hubschrauber ins Krankenhaus gebracht worden.
Wie die italienische Nachrichtenagentur Ansa berichtete, wirft die Staatsanwaltschaft den beiden Menschenschmugglern mehrfache fahrlässige Tötung, Menschenhandel und gefährlichen Eingriff in den Schiffsverkehr vor. Die beiden seien von anderen Überlebenden identifiziert worden, sagte der zuständige Staatsanwalt Giovanni Salvi. Auch der Flüchtling aus Bangladesch, der im Krankenhaus von Catania liegt, habe sie auf Fotos erkannt.
Die Überlebenden waren an Bord der "Gregoretti" der italienischen Küstenwache nach Sizilien gebracht worden. Dort empfing sie Verkehrsminister Graziano Delrio. An Bord des Flüchtlingsschiffs, das in der Nacht zum Sonntag gekentert war, sollen nach Angaben eines Überlebenden bis zu 950 Menschen gewesen sein. 28 wurden gerettet, 24 Leichen wurden geborgen.
EU weitet Hilfe massiv aus
Als Reaktion auf die jüngsten Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer will die Europäische Union die Seenothilfe massiv ausweiten. Bei einem Krisentreffen der Außen- und Innenminister zu Wochenbeginn in Luxemburg wurden Pläne für die Verdoppelung der Mittel für die EU-Programme "Triton" und "Poseidon" auf den Weg gebracht. Sie sollen den Einsatz von deutlich mehr Schiffen ermöglichen und noch am Donnerstag auf einem Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs vorgelegt werden.
Neben der Ausweitung der Seenotrettung könnten künftig gezielt von Schleppern genutzte Schiffe beschlagnahmt und zerstört werden. Vorbild sei die militärische Anti-Piraterie-Mission "Atalanta" am Horn von Afrika, sagte der zuständige EU-Kommissar Dimitris Avramopoulos in Luxemburg bei der Vorstellung eines Zehn-Punkte-Plans. Die an Atalanta beteiligten Kräfte begleiten nicht nur zivile Schiffe, sondern haben mehrfach bereits Rückzugsbasen der Piraten zerstört.
Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini sagte, das Ansehen Europas stehe auf dem Spiel. Viel zu oft sei gesagt worden: "Nie wieder". Der UN-Hochkommissar für Menschenrechte hatte die EU zuvor ungewöhnlich scharf kritisiert. Die Hunderten von Toten seien das Ergebnis eines anhaltenden Politikversagens und eines "monumentalen Mangels an Mitgefühl", sagte Said Raad al-Hussein in Genf. Statt nach sinnlosen strengeren Abschottungsmaßnahmen zu rufen, müsse die EU endlich legale Fluchtwege und mehr Rettungskapazitäten für das Mittelmeer bereitstellen.
Möglicherweise keine Gewissheit über Zahl der Toten
Die Hoffnung, im Mittelmeer weitere Überlebende der Katastrophe zu finden, schwand zuletzt immer weiter. Der italienischen Küstenwache zufolge war das Fischerboot mit Hunderten Flüchtlingen an Bord etwa 70 Seemeilen (130 Kilometer) vor der libyschen Küste gekentert. Ob das Schiff und die vermutlich Hunderten Leichen an Bord des gesunkenen Wracks geborgen werden können, ist unklar. Die Küstenwache erklärte, möglicherweise werde es keine Gewissheit über die Zahl der Toten geben, da das Mittelmeer an der Unglücksstelle sehr tief sei.
Die Flüchtlinge treten nach Berichten von Überlebenden und Helfern die Fahrt über das Mittelmeer oft auf völlig überladenen und nicht seetüchtigen Booten an - bisweilen sogar ohne genügend Treibstoff. Das Bürgerkriegsland Libyen gilt derzeit als Haupttransitland. Seit Langzeitmachthaber Muammar al-Gaddafi 2011 mit Unterstützung des Westens gestürzt wurde, rivalisieren in Libyen islamistische Milizen und nationalistische Kräfte gewaltsam um Macht und Einfluss. Es gibt keine funktionierenden Grenzkontrollen.
Nach Angaben der Staatsanwaltschaft im sizilianischen Palermo warten in Libyen bis zu eine Million Flüchtlinge auf die Überfahrt nach Europa. Mangels bürokratischer Strukturen vor Ort ist die genaue Zahl der Flüchtlinge kaum sicher zu ermitteln.
Quelle: ntv.de, mmo/dpa