Schwere Gefechte in der Ukraine Wo die ukrainische Offensive vorankommt
11.07.2023, 17:19 Uhr Artikel anhören
Krieg in der Ukraine: Ein ukrainischer Soldat feuert mit einem Maschinengewehr Richtung Gegner.
(Foto: AP)
Der Großangriff der Ukrainer läuft seit gut fünf Wochen, der erhoffte Durchbruch bleibt bislang aus. Bei den Gefechten an der rund 1000 Kilometer langen Frontlinie lassen sich jedoch mehrere Stoßrichtungen erkennen. Ein Blick auf die Karte zeigt die wichtigsten Brennpunkte.
Im Kampf gegen die russische Invasionsarmee verzeichnet die Ukraine langsam erkennbare Fortschritte. An mehreren Abschnitten der Front befinden sich die ukrainischen Streitkräfte auf dem Vormarsch. Die anfängliche Euphorie jedoch ist nach der ersten Phase der Gegenoffensive der Ernüchterung gewichen: Die Gefechte entwickeln sich außerordentlich zäh, jeder Meter Boden muss den Besatzern in blutigen Kämpfen abgerungen werden. Der erhoffte schnelle Durchbruch durch die russischen Linien steht noch aus.
Ein Abgleich der aktuellen Lagekarte mit dem Stand von Anfang Juni jedoch zeigt: Die Frontlinie ist gut fünf Wochen nach Beginn der ukrainischen Gegenoffensive an mindestens vier Stellen in Bewegung geraten. Ukrainische Vorstöße zeichnen sich insbesondere an der Saporischschja-Front im Süden und bei Bachmut im Osten des Landes ab.
Intensiv gekämpft wird übereinstimmenden Berichten aus ukrainischen und russischen Quellen zufolge östlich des Kachowka-Stausees bei Pyatychatky, südlich von Orichiw an der Tokmak-Front sowie südlich von Welyka Nowosilka im Osten der Region Saporischschja. Militärexperten sprechen in diesem Zusammenhang von Vorstößen oder auch "Angriffsachsen" in Richtung der südukrainischen Etappen-Städte Melitopol und Tokmak (Pyatychatky-Vorstoß), Richtung Berdjansk (Orichiw-Vorstoß) sowie Richtung Mariupol (Vorstoß bei Welyka Nowosilka).
Alle drei Vorstöße in der Saporischschja-Region liegen im sogenannten Zentralraum der Front zwischen Kachowka-Stausee und dem Donbass. Ein ukrainischer Durchbruch hier hätte empfindliche Folgen für die russische Besatzungsarmee: In einem rund 100 Kilometer breiten Korridor verläuft in diesem Gebiet südlich der Kampfzone die russisch kontrollierte Landbrücke zur Krim. Je weiter die Ukrainer in Richtung Süden vordringen, desto enger wird es für die Nachschubrouten der russischen Truppen.
Bei Pyatychatky nahe des leer gelaufenen Kachowka-Staubeckens scheint der ukrainische Angriff bisher noch vor der vorderen Verteidigungslinie des russischen Stellungssystems liegen geblieben zu sein. Die Gefechte dort binden allerdings umfangreiche russische Kräfte: Putins Militärplaner können sich hier keinen taktischen Rückzug erlauben.
Denn südwestlich von Pyatychatky beginnt nach wenigen Kilometern die weite Ebene der südukrainischen Steppe. Die vergleichsweise dünn besiedelte Agrarregion ermöglicht einer vorrückenden Armee weitgehend freie Fahrt. Bis hinunter zur Krim gibt es dort zwischen linkem Dnipro-Ufer und Melitopol kaum noch natürliche Geländehindernisse und nur wenige Ortschaften, die sich zur effektiven Verteidigung eignen.
Der Orichiw-Vorstoß liegt nur knapp 30 Kilometer weiter östlich: An dieser Stelle der Front ist es ukrainischen Einheiten offenbar gelungen, das Sperrfeuer und die Minenfelder der Russen bis zur ersten russischen Verteidigungslinie zu durchbrechen. Gekämpft wird hier seit mehreren Tagen unter anderem um das Dorf Roboytne. Bei den ersten größeren Gefechten nördlich dieser Ortschaft gingen im Juni unter anderem auch die ersten ukrainischen Leopard-2-Panzer verloren. Anfang Juli meldeten russische Militärblogger den Einbruch ukrainischer Angriffsspitzen in die dortigen russischen Grabensysteme.
Die größten Geländegewinne der laufenden Offensive erzielten die Ukrainer bisher jedoch noch einmal 80 Kilometer weiter östlich bei Welyka Nowosilka. Dort, im äußersten Südwesten der Donezk-Region, konnten die ukrainischen Streitkräfte bereits im Juni mehr als ein halbes Dutzend Ortschaften befreien. Ortsnamen wie Neskutschne, Storoschewe, Blahodatne oder Riwnopil stehen für mühsam errungene ukrainische Erfolge. Die Gefechte folgen dort den Flussniederungen des Mokri Jaly, der hier von Wolnowacha kommend in Richtung Norden fließt.
Mögliches Angriffsziel des ukrainischen Vorstoßes bei Welyka Nowosilka wäre Mariupol: Die ukrainische Hafenstadt liegt rund 100 Kilometer südlich am Ufer des Asowschen Meeres. Mariupol hat für beide Seiten enorme symbolische Bedeutung: Der russischen Invasionsarmee war es im vergangenen Frühjahr erst nach wochenlanger Belagerung und einer brutalen Bombardierung gelungen, die einst rund 450.000 Einwohner zählende Metropole zu erobern.
Einen ähnlichen symbolischen Stellenwert misst die russische Propaganda sonst nur Bachmut bei. Dort, weit im Osten der Ukraine, befinden sich die russischen Truppen jedoch ebenfalls massiv unter Druck. In den vergangenen Wochen konnten ukrainische Verbände gleich an mehreren Stellen in Richtung Stadtgebiet vordringen. Systematisch heben die Ukrainer dort eine russische Stellung nach der anderen aus. Selbst eine drohende Umschließung scheint nicht mehr ausgeschlossen.
Der genaue Frontverlauf lässt sich im Nebel des Krieges und der Propaganda nur indirekt bestimmen. Die hier verwendeten Angaben stützen sich auf öffentlich verfügbare Informationen, deren Gehalt Schritt für Schritt auf Plausibilität und Nachvollziehbarkeit hin überprüft wird. Wichtigste Informationsquelle sind offizielle Verlautbarungen aus Kiew. Dazu kommen Einschätzungen westlicher Experten sowie die Fülle an veröffentlichtem Videomaterial, aus dem sich teils detaillierte Rückschlüsse auf die Lage an der Front ziehen lassen.
Angaben aus russischen Quellen sind dagegen größtenteils wenig belastbar. Beleglose Behauptungen reihen sich hier zum Teil an offensichtliche Lügen. Vielfache Wiederholungen zielen offenkundig darauf ab, Unsicherheiten zu schüren und die tatsächliche Entwicklung zu verwischen. In einzelnen Fällen können Angaben von russischer Seite dennoch ergänzende Hinweise liefern, etwa wenn der Beschuss einer bisher russisch kontrollierten Ortschaft gemeldet wird oder Ausmaße ukrainischer Vorstöße Erwähnung finden.
Wichtigste Stütze zur Beurteilung des aktuellen Frontverlaufs sind Satellitenfotos. Die Aufnahmen aus dem All können mitunter einen unabhängigen Blickwinkel zu den Ereignissen am Boden beisteuern. So lassen sich unter Idealbedingungen und bei wolkenfreiem Himmel in der Kampfzone mit geeigneten Vergleichsaufnahmen Fahrzeugspuren, Granattrichter und neu errichtete Stellungen ausmachen. In der Summe verdichten sich diese Hinweise zu einem Gesamtbild aus der Distanz: Im Ergebnis nähert sich die eingezeichnete Frontlinie den Geschehnissen am Boden mit einer gewissen Verzögerung an. Die Öffentlichkeit erhält ein ungefähres Bild zum Frontverlauf in der Ukraine.
Quelle: ntv.de