Panzergräben, Dämme, Sperren Russen igeln sich bei Tokmak ein
07.07.2023, 18:08 Uhr Artikel anhören
Russischer Kampfpanzer in der Ukraine: Kann der Stellungsbau die ukrainische Gegenoffensive aufhalten?
(Foto: picture alliance/dpa/Russian Defence Ministry)
Im Süden der Ukraine stemmt sich Putins Invasionsarmee gegen den Ansturm der Kiewer Gegenoffensive: Satellitenbilder belegen das Ausmaß umfangreicher Stellungsbauten im Hinterland der Front. Die Kleinstadt Tokmak wirkt wie eine russische Festung.
Der ukrainische Gegenangriff zur Befreiung der besetzten Gebiete im Süden und Osten des Landes läuft, größere Geländegewinne können die ukrainischen Streitkräfte bisher jedoch nur an einigen wenigen Stellen erzielen. Der erhoffte Durchbruch durch die russischen Linien bleibt bislang aus. Noch kämpfen die ukrainischen Angriffsspitzen im Vorfeld der russischen Verteidigungsanlagen.
Entlang der Frontlinie haben sich Putins Militärs mit auffallend aufwändigen Stellungsbauten verschanzt: In den vergangenen Monaten entstanden allein in der Region Saporischschja tiefe Panzergräben und breite Höckerlinien der aus in Beton gegossenen "Drachenzähnen". In einer eigenen Karte hat der US-Analyst Brady Africk die russischen Bemühungen dokumentiert. Auf Satellitenaufnahmen aus dem All erkennbar sind zudem begleitende Grabensysteme mit gedeckten Geschützständen, Artilleriepositionen und zusätzlichen Sperranlagen.
Aktuelle Satellitenfotos aus der Region Saporischschja belegen das Ausmaß der russischen Stellungen. Rund um die Kleinstadt Tokmak zum Beispiel ist seit dem Winter ein regelrechtes Stellungsnetz entstanden: Kilometerlang ziehen sich hier Gräben und Streifen an Betonhindernissen durch die Landschaft.
Die wie auf dem Reißbrett angelegten Anlagen bilden bei Tokmak eine geschlossene Stellung. In monatelangen Erdarbeiten ist hier ein offen sichtbarer Verteidigungsring entstanden. Die Abmessungen der Anlage sind selbst in den mittleren Auflösungen kommerzieller Erdbeobachtungskameras - zumindest bei näherem Hinsehen - noch gut auszumachen. In einigem Abstand zu den Sperranlagen tauchen die typisch gezackten Muster der Schützengräben und die Mulden der vorbereiteten Feuerstellungen auf.
Die Anlagen folgen streckenweise den Konturen des Geländes. An anderen Stellen decken sie Flussübergänge, ziehen sich über Höhenrücken oder riegeln Fernstraßen ab. Mit ausreichend Verteidigern besetzt, könnten die Gräben dazu dienen, einen raschen Vormarsch motorisierter ukrainischer Einheiten zu bremsen. Bisher jedoch lenken die Bauarbeiten viel Aufmerksamkeit auf die erkannten Stellungen. Liegen hier die russischen Hauptverteidigungslinien?
In den vergangenen Wochen fielen westlichen Beobachtern weitere russische Vorkehrungen in der Region auf: Ende Juni entstand zum Beispiel im Südosten des Stadtgebiets von Tokmak ein improvisierter Damm in den Niederungen des Flüsschens Tokmakka. Das aufgestaute Wasser setzte die angrenzenden Ackerflächen dort auf einer Länge von rund 800 Metern unter Wasser. Die Maßnahme, so lautet eine Vermutung, könnte darauf abzielen, im Umfeld der Stadt ein weiteres natürliches Hindernis zu errichten.
Tokmak, scheint es, spielt in den Überlegungen der russischen Besatzer eine besondere Rolle. Tatsächlich hat die Ortschaft für beide Seiten große strategische Bedeutung. Ein Blick auf die Karte zeigt: Die Kleinstadt, in der vor dem Krieg rund 30.000 Einwohner lebten, liegt derzeit noch rund 25 Kilometer hinter der Front. Mehrere Straßen kreuzen sich in Tokmak. Aus russischer Sicht bietet sich Tokmak als Verkehrs- und Logistikstützpunkt im Hinterland der Kampfzone an.

Blick auf Tokmak mit Details im russischen Stellungsbau.
(Foto: ntv.de / lst, Satellitenfoto © Sentinel Hub / ESA)
Aus Nordwesten führt die Fernstraße aus der Zentralukraine kommend nach Berdjansk an Tokmak vorbei nach Südosten. Südlich des Stadtgebiets verläuft die wichtigste Bahnstrecke der Region von Mariupol Richtung Krim. Aus ukrainischer Sicht ist Tokmak die erste größere Ortschaft auf dem Weg zur Küste. Von Tokmak bis zum russisch besetzten Verkehrsknotenpunkt Melitopol sind es nur knapp 50 Kilometer.
Ein ukrainischer Durchbruch bei Tokmak, so das militärische Kalkül, könnte hier einen Keil in die russischen Verbände treiben. Die russische Landbrücke zur Krim ist nirgends schmaler als am Frontabschnitt bei Tokmak. Von dort bis zur Hafenstadt Berdjansk sind es nur noch gut 100 Kilometer über weitgehend flaches Gelände. Abgesehen von Tokmak und Melitopol liegt in dem Korridor keine größere Ortschaft mehr zwischen den ukrainischen Befreiern und dem Asowschen Meer.
Fünf Wochen nach Beginn der Gegenoffensive zeichnen sich bisher mehrere ukrainischen Stoßrichtungen ab: Die schwersten Gefechte wüten derzeit an der Saporischschja-Front. Mit dem Vorrücken auf Robotyne wird auch eine mögliche Stoßrichtung der ukrainischen Angriffe erkennbar: Von dort bis Tokmak wären es nur noch gut 25 Kilometer.
Kilometerlange, offen sichtbare Gräben
Die russischen Stellungsbauten bei Tokmak haben jedoch einen offensichtlichen Haken: Die mehrfach gestaffelten Verteidigungslinien erfordern eine große Zahl an kampfstarken Soldaten, ansonsten sind sie beinahe wertlos. Die üblicherweise parallel zu den Sperranlagen ausgelegten Minenfelder schränken zudem auch den Bewegungsspielraum der Besatzungstruppen ein.
Unklar ist, über welche personellen Reserven die Kreml-Generäle in der Region noch verfügen. Die Versorgungslage ist schwierig, die russischen Nachschubrouten stehen seit Wochen gezielt unter Beschuss. Bisher noch wirken die Abschnitte bei Tokmak noch unbesetzt. Die ausgehobenen Geschützstellungen sind größtenteils leer.
Welchen militärischen Wert haben die russischen Schanzarbeiten hinter der Front tatsächlich? Kann die russische Armee wirklich davon ausgehen, die Ukrainer in allseits bekannten und offen sichtbaren Stellungen dauerhaft aufhalten zu können? Immerhin verfügen die ukrainischen Streitkräfte über westliche Präzisionsmunition, Pionierpanzer, Minenräumer und anderes schweres Militärgerät.
Sicher zumindest ist, dass Putins "militärische Spezialoperation" - wie der völkerrechtswidriger Angriffskrieg Russlands in Moskau noch immer genannt wird - im zweiten Jahr der Kampfhandlungen bereits massiv in Bedrängnis geraten ist. Das Potenzial der ukrainischen Gegenoffensive ist auch in den Augen der russischen Befehlshaber offenbar so groß, dass mit Durchbrüchen in die Tiefe zu rechnen ist.
Ein Großteil der ukrainischen Verbände, so heißt es aus Kiew, sei noch gar nicht im Einsatz. Damit könnte die Phase größerer Vorstöße noch kommen. In den nächsten Wochen wird sich zeigen, an welcher Stelle der rund 900 Kilometer langen Frontlinie die schwersten Gefechte aufflammen.
Quelle: ntv.de