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Wer gab Koalition den Todesstoß? Krimi-Dinner im Kanzleramt - Deutschland sucht den Ampelmörder

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Tatort Kanzleramt: Hier fand die Ampel-Koalition ihr schlagartiges Ende.

Tatort Kanzleramt: Hier fand die Ampel-Koalition ihr schlagartiges Ende.

(Foto: picture alliance/dpa)

Die Ampel ist tot. Doch wer hat ihr den Todesstoß versetzt? Der Bundeskanzler, der seinen Finanzminister kaltblütig vor die Tür setzte? Der Finanzminister, der seinen Regierungschef vorführen wollte? Am Tag danach präsentieren die Beteiligten ihre Beweise. Doch Obacht! Darunter sind falsche Fährten.

An einem feuchtkalten Herbstabend kommen 18 Politikerinnen und Politiker aus drei Parteien in einem grell erleuchteten Betonbunker in der Mitte Berlins zusammen. Sie wähnen sich bei einem Treffen des Koalitionsausschusses, weshalb die Spitzenpolitiker von SPD, Grünen und FDP erschienen sind. Doch sie irren sich! Was an diesem 6. November 2024 im Bundeskanzleramt stattfindet, ist in Wahrheit ein Krimi-Dinner! Ein Abend mit gutem Essen und einem Toten, dessen Mörder auch am Tag danach noch nicht überführt ist.

Klar sind nur zwei Dinge. Erstens: Zu essen gab es Rinderschulter und Rosenkohl sowie Pilz-Tagliatelle für die Vegetarier. Zweitens: Im Verlauf des Treffens stirbt die Ampel-Koalition einen gewaltsamen Tod. Doch anders, als es die Regeln handelsüblicher Krimi-Dinner vorschreiben, endet das Treffen, ohne dass der Schuldige entlarvt wurde. Stattdessen treten die Teilnehmer vor die Presse und verbreiten noch in der Nacht und dann noch einmal am Folgetag ihre Sicht der Dinge. 80 Millionen Bundesbürger sind nun eingeladen, selbst zu entscheiden: Wer hat die Regierungskoalition auf dem Gewissen?

Verdächtiger Nummer eins: Olaf Scholz

Dass Scholz die Ampel auf dem Gewissen hat, ist ein naheliegender Gedanke: Er ist es, der Bundesfinanzminister Christian Lindner brüsk des Kabinettstisches verwies. Ein Akt der Notwehr sei das gewesen, sagt Scholz. Lindner habe "verantwortungslos" gehandelt. "Als Bundeskanzler kann ich das nicht dulden", sagt Scholz. "Zu oft wurden die nötigen Kompromisse übertönt durch öffentlich inszenierten Streit und laute ideologische Forderungen. Zu oft hat Bundesminister Lindner Gesetze sachfremd blockiert. Zu oft hat er kleinkariert parteipolitisch taktiert."

Ohne Frage: Der Kanzler hat Motive, auch persönlicher Natur. Er verachtet Menschen, die unfähig sind zum politischen Kompromiss. Zudem hat Lindner dem deutschen Regierungschef über Jahre das Leben als Kanzler schwer gemacht. Seit der Neufassung des Haushalts im Winter letzten Jahres gilt ihr Verhältnis als zerrüttet. Darüber hinaus führt Scholz auch inhaltliche Gründe an: Deutschland müsse nach der Wahl von Donald Trump zum nächsten US-Präsidenten mehr Geld für die Ukraine aufbringen, um einen russischen Vormarsch und eine Vielzahl ukrainischer Flüchtlinge zu verhindern. Doch die Finanzierung der Hilfen durch eine Aussetzung der Schuldenbremse lehnt Lindner ab - und wird deshalb von Scholz entlassen.

Der FDP-Vorsitzende bezichtigt Scholz der "Entlassungsinszenierung". Der Bundeskanzler habe den "kalkulierten Bruch" des Bündnisses am Mittwochabend genauso gewollt. Als Beleg gilt Lindner, dass Scholz unmittelbar nach dem Koalitions-Aus mit einer vorbereiteten Rede vor die Presse trat - und in nie dagewesener Art und Weise mit seinem bisherigen Finanzminister abrechnete.

Verdächtiger Nummer zwei: Christian Lindner

Der FDP-Vorsitzende trauert der gestorbenen Ampel keine Träne nach. Warum auch? Er und seine FDP sind in drei Jahren Regierungszeit zur Nischenpartei geschrumpft. Sie flogen aus einem Landesparlament nach dem anderen, nun droht akut der Rausschmiss aus dem Bundestag. Auch Lindner hat also ein persönliches Motiv. Er führt aber zu seiner Verteidigung an, er habe die Ampel UND Deutschland zugleich retten wollen - mit seinem 18-seitigen Papier für eine Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik.

Doch was Lindner als Medizin ausgab, deuten seine Koalitionspartner als Gift: Die meisten dieser FDP-Vorschläge waren mit SPD, Grünen oder beiden nicht zu machen. In den Spitzen beider Parteien drängte sich daher der Eindruck auf, Lindner trachte dem Regierungsbündnis nach dem Leben und wolle noch in der laufenden Woche den Bruch. In dieser Lesart ging es nicht mehr um das Ob, sondern nur noch um das Wie. Und das habe am Abend des Koalitionsausschusses der Kanzler bestimmt. Der Ampel-Tod selbst gehe demnach allein auf Lindners Kappe.

Der scheinbar Unbeteiligte: Robert Habeck

Während sich SPD und FDP öffentlich beharken, geht die Anwesenheit eines Dritten am Abend des Ampel-Aus beinahe unter: die Grünen mit ihrem designierten Kanzlerkandidaten Robert Habeck. Sowohl in der Nacht als auch am Folgetag beteuert Bundeswirtschaftsminister Habeck, der Bruch der Ampel sei "nicht nötig" gewesen. Es habe verschiedene Optionen gegeben, die zweistellige Milliarden-Lücke im Haushalt zu schließen, ohne eine Notlage bei der Schuldenbremse auszurufen. Über entsprechende Vorschläge zu verhandeln, habe sich die FDP aber nicht bereit gezeigt.

Habeck tritt als Zeuge zugunsten des Verdächtigen Scholz auf: Er und seine Partei gehen davon aus, dass die FDP so oder so das Ampel-Aus gewollt habe. Sie stellen sich daher hinter Scholz' Entscheidung, die FDP rauszuschmeißen, bevor diese von allein geht. Enthusiasmus aber sieht anders aus: Habeck selbst verzichtet auf persönliche Anwürfe in Richtung Lindner. Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann aber macht die "Egoismen und Destruktivität" der FDP als Verantwortliche des Koalitionsbruchs aus. Was für die Grünen spricht: Die vorgezogenen Neuwahlen treffen die Partei zur Unzeit: Mitte November wird eine neue Parteispitze samt neuer Bundesgeschäftsführerin gewählt. Die muss sich nun unter maximalem Druck einarbeiten: bei der Vorbereitung und Umsetzung einer Bundestagswahlkampagne.

Zur Beweislage

Lindner sieht Scholz vor allem durch dessen vorbereitete Abschiedsrede als vorsätzlichen Ampel-Mörder entlarvt. Doch aus der SPD heißt es, es habe mehrere vorbereitete Reden gegeben - je nach Ausgang des Koalitionsausschusses.

Ferner hält Lindner sich zugute, er habe Scholz' Forderung nach einer Aussetzung der Schuldenbremse im nächsten Jahr gar nicht nachkommen können. "Dem konnte ich nicht zustimmen, weil ich damit meinen Amtseid verletzt hätte", behauptet Lindner. Die Aussetzung ohne Prüfung der Verfassungsmäßigkeit sei mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Bei den Grünen ist zu hören, dass ein Notlage-Beschluss schon Tage vorher von Scholz als Möglichkeit eingebracht worden sei. Lindner hätte diese Option also prüfen können.

Zudem hält Dennis Rohde, Chefhaushälter der SPD im Bundestag, den Freidemokraten entgegen, dass die Koalition doch gerade erst im vergangenen Herbst im Nachtragshaushalt 2023 die Schuldenbremse ausgesetzt habe. Und das aus demselben Grund: wegen des Krieges in der Ukraine. "Das ist erneut Nachweis seiner Unaufrichtigkeit und durchschaubarer Widersprüchlichkeit", sagt Rohde über Lindner. Das Gegenargument der FDP: Es mache einen Unterschied, ob die Notlage nachträglich festgestellt oder im Vorhinein angenommen werde, noch bevor der Notfall eingetreten ist.

Richtig ist: Scholz begründete die Notwendigkeit eines Überschreitungsbeschlusses - wie die Aussetzung der Schuldenbremse im Amtsdeutsch heißt - mit der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten. Der könnte die US-Hilfen für die Ukraine drastisch zurückfahren, Russland in der Ukraine triumphieren. Die deutsche Sicherheitslage wäre dadurch akut durch Putin bedroht.

Warum aber hat Scholz - anders als seine Partei - nicht schon vorher auf einen Notlagebeschluss hingewirkt und etwa öffentlichen Druck aufgebaut? Dass ihm die Aussetzung der Schuldenbremse schlagartig so wichtig geworden war, dass er darüber Lindner feuerte, überrascht. Zumal Lindner am Folgetag daran erinnerte, dass der Kanzler und seine SPD - und nicht die Freidemokraten - bei der Ukraine-Unterstützung zauderten. Lindner habe im Koalitionsausschuss erneut die Bereitstellung des Marschflugkörpers Taurus für die Ukraine vorgeschlagen, der Kanzler aber habe einmal mehr abgelehnt.

Der Belastungszeuge: Volker Wissing

In ein schlechtes Licht rückt Christian Lindner ausgerechnet sein früherer Generalsekretär: Volker Wissing. Der Bundesverkehrsminister kehrte überraschend seiner FDP den Rücken, blieb Minister und übernahm zusätzlich auch noch den freigewordenen Posten des Bundesjustizministers. "Die Entscheidung ist eine persönliche Entscheidung von mir, die meiner Vorstellung von Übernahme von Verantwortung entspricht", erklärte Wissing.

Er hatte schon vergangene Woche in einem Gastbeitrag in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" einen Appell für Kompromissfähigkeit und Verantwortungsgefühl in global unsicheren Zeiten formuliert. Wissing muss über die Absichten der FDP bestens informiert gewesen sein - und damit nicht einverstanden. Wäre Wissing wirklich als einziger FDP-Politiker im Kabinett geblieben, wenn er beim Parteivorsitzenden die Bereitschaft gesehen hätte, eine für alle gangbare Lösung der Haushalts- und Wirtschaftskrise zu suchen? Wissings Amtsverbleib muss den Hobby-Ermittlern beim "Krimi-Dinner im Kanzleramt" als gewichtiger Indikator gelten - auch ohne, dass er Lindner und seine Mitstreiter öffentlich des Ampel-Mordes bezichtigt.

War die Ampel nicht schon tot?

Ebenfalls zu gewichten ist die Frage, inwiefern die Ampel überhaupt ein Opfer war und ob sie nicht ohnehin auf dem Sterbebett lag, ob also der oder die Täter nur eine Art Sterbehilfe geleistet haben? Die Ampel war den Umfragen zufolge im öffentlichen Ansehen eine Art Untoter, dessen Verschwinden längst herbeigesehnt wurde. Lindner bekennt, dass er ein humanes Ende vorgeschlagen habe: einen geordneten, gemeinsamen Rückzug. Demnach hätte die Ampel noch einen Nachtragshaushalt für das laufende Jahr und das eine oder andere Gesetz beschließen und sich anschließend auflösen können.

Von SPD und Grünen ist zu hören, dieser Vorschlag sei nicht ernst gemeint gewesen, weil die FDP gar keine Grundlage für den Nachtragshaushalt parat gehabt habe. Zudem landete während einer Beratungspause des Koalitionsausschusses bei der "Bild"-Zeitung die Information, dass Lindner Scholz Neuwahlen vorgeschlagen und dieser abgelehnt habe. Bei SPD und Grünen ist man sich sicher: Diese Information kam von Lindner und seiner Entourage. Ab dem Zeitpunkt der "Bild"-Meldung sind sich SPD und Grüne daher sicher gewesen, dass Lindner das Ampel-Aus unbedingt wolle. Ab da sei es nur noch darum gegangen, wer am wenigsten beschädigt rauskommt.

Als die 18 Männer und Frauen von SPD, Grünen und FDP nach der Pause wieder in einem Raum zusammenkommen, sind die Würfel gefallen. Scholz fragt Lindner nach der Zustimmung zum Aussetzungsbeschluss, dieser lehnt ab, Scholz feuert Lindner. Die Ampel ist tot. Nur wer hat sie jetzt auf dem Gewissen? Und wer ist Mittäter oder hat den Koalitionsbruch durch Nichteinschreiten möglich gemacht? Der Reigen gegenseitiger Bezichtigungen wird noch eine Weile anhalten. Dann wird wohl Gras über diese Fragen wachsen, auch weil die meisten Bundesbürger feststellen dürften: Solch eine Koalition zu beenden, ist kein Verbrechen - und der Rest ist Bundestagswahlkampf.

Quelle: ntv.de

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