Keine Waffenlieferungen Die Schweiz versteckt sich hinter ihrer Neutralität
29.03.2023, 13:13 Uhr
Etwa 150.000 aktive Soldaten sind Teil der Schweizer Armee.
(Foto: REUTERS)
Der Westen ist genervt von der Schweiz. Mit Verweis auf ihre jahrhundertealte Neutralität blockieren die Eidgenossen Waffen- und Munitionslieferungen, die NATO-Staaten an die Ukraine weiterreichen wollen. Und selbst im Fall einer Reform gelangt Schweizer Kriegsmaterial erst in ein paar Jahren nach Kiew.
Die Schweiz ist für viele Dinge berühmt: für ihre Berge, ihre Schokoladen, ihre pünktlichen Züge - aber auch für ihre Neutralität. Seit Jahrhunderten halten sich die Eidgenossen von Kriegen und Konflikten fern. Zwar beteiligt sich das Alpenland derzeit zumindest teilweise an den Sanktionen gegen Russland. Waffen- und Munitionslieferungen an die Ukraine lehnt die Schweiz jedoch weiterhin ab. Die Regierung verweist immer wieder auf die in der Verfassung verankerte Neutralität.
Die Menschen in der Schweiz finden die neutrale Haltung ihres Landes gut. Eine Umfrage im Januar ergab, dass 91 Prozent an der Neutralität festhalten wollen. Das sind 5 Prozent weniger als im Vorjahr, aber immer noch eine überwältigende Mehrheit. "Das Problem ist allerdings, dass die allermeisten Schweizer gar nicht wissen, was das Neutralitätsrecht genau verlangt und was dazu in unserer Verfassung steht. Dort wird die Neutralität nämlich nur nebenbei erwähnt, als eines von mehreren Instrumenten zur Wahrung der Schweizer Unabhängigkeit", erklärt Mauro Mantovani, Dozent an der Militärakademie der ETH Zürich, im ntv-Podcast "Wieder was gelernt".
Der Experte geht davon aus, dass die meisten Schweizerinnen und Schweizer mit Neutralität "einfach nur positive Gefühle verbinden" - die Nicht-Mitgliedschaft der Schweiz in der EU und NATO zum Beispiel. "Der Neutralität wird aber auch zugeschrieben, dass die moderne Schweiz nie militärisch angegriffen wurde und sich zu einem wohlhabenden Land entwickeln konnte", berichtet Mantovani.
Innenpolitischer Streit um die Neutralität
Das Thema Neutralität wird in der Schweiz derzeit so aufgewühlt diskutiert wie lange nicht. Denn während die Schweiz in Friedenszeiten unbekümmert Munition herstellt und in alle Welt liefert, besinnt sie sich in Kriegszeiten auf ihre Friedensmission - und lässt so auch die angegriffene Ukraine im Stich. Der Vorwurf, die Schweiz verstecke sich hinter einem schwammig formulierten Neutralitätsanspruch, anstatt ein angegriffenes Land zu unterstützen, wiegt schwer, ist aber kaum zu entkräften.
Die Schweiz hat ein strenges Kriegsmaterialgesetz, das Rüstungsgeschäfte mit dem Ausland ohne Ausnahme untersagt, wenn sich das jeweilige Land im Krieg befindet. Seit der letzten Verschärfung Ende 2021 lässt das Gesetz praktisch gar keinen Spielraum mehr für die Ausfuhr von Kriegswaffen oder Munition. Es ist egal, ob ein Land einen Angriffskrieg führt oder angegriffen wird. "Mit dem immer wieder angepassten Gesetz sucht die Schweiz einen Ausgleich zwischen wirtschaftlichen Interessen, sicherheitspolitischen Überlegungen und der humanitären Tradition des Landes", beschreibt Mantovani im "Wieder was gelernt"-Podcast.
Darunter leiden könnte aber das Image der Schweiz. Auch in der Innenpolitik ist deshalb längst ein Streit über die Neutralität entbrannt. Die Schweizer FDP will das Exportverbot so weit lockern, dass Länder, die die demokratischen Werte der Eidgenossen teilen, in der Schweiz hergestellte Rüstungsgüster weiter verkaufen oder verschenken dürfen. Die Schweizerische Volkspartei SVP, größte Kraft im Parlament, schmetterte den Gesetzentwurf jedoch ab.
Bereits im vergangenen Herbst hatte außerdem der ukrainische Präsident Selenskyj die Schweiz bei einer Veranstaltung der Uni Zürich dazu aufgerufen, ihre Neutralität aufzugeben. Auch aus Deutschland gibt es vermehrt kritische Stimmen, weil Waffen oder Munition, etwa aus dem Rheinmetall-Werk in Zürich, nicht ausgeliefert werden.
Schweiz als Pufferzone
Die Neutralität der Schweiz findet sich in Artikel 185 der Schweizer Verfassung wieder. "Der Bundesrat trifft Maßnahmen zur Wahrung der äußeren Sicherheit, der Unabhängigkeit und der Neutralität der Schweiz" - das ist der exakte Wortlaut. Die Spuren dieses Satzes reichen Jahrhunderte zurück. "Die Ursprünge der schweizerischen Neutralität liegen im Spätmittelalter, als die Eidgenossenschaft wuchs und immer vielfältiger wurde, konfessionell und kulturell. Um in diesem Prozess nicht auseinander zu brechen, hielt sich das Land außenpolitisch zurück", erklärt Mantovani im Podcast.
Auf dem Wiener Kongress 1814/1815 wurde die Schweiz schließlich zur dauerhaften Neutralität verpflichtet. Das lag im Interesse der damaligen Großmächte. "Vor allem Frankreich und Österreich wollten nicht, dass die jeweils andere Macht die schweizerischen Alpenübergänge kontrolliert", so Mantovani.
Die Schweiz sollte einen Puffer zwischen den europäischen Regionalmächten bilden. 1907 wurden in der Haager Landkriegsordnung dann konkrete Rechte und Pflichten festgelegt, die sich aus der Neutralität ergeben. Demnach dürfen neutrale Staaten keinen Krieg führen und keinem Militärbündnis beitreten. Sie dürfen sich bei einem Krieg auf keine Seite schlagen - egal wer Aggressor ist und wer angegriffen wird.
Ihre neutrale Rolle schätzen die Menschen in der Schweiz, wie das erwähnte Umfrageergebnis zeigt. Gleichzeitig sind die Eidgenossen mit den Folgen der Neutralität aber deutlich weniger einverstanden. Im Januar war eine knappe Mehrheit bei einer Umfrage dafür, dass sich die Schweiz der NATO annähern sollte. Etwa die Hälfte der Befragten hatte sich in anderen Befragungen zudem für Waffenlieferungen an die Ukraine ausgesprochen.
Rheinmetall droht mit Abgang
Die Rüstungsindustrie würde einen solchen Schritt natürlich begrüßen. "Die Branche war immer klar für eine liberale Exportpolitik und gegen Liefereinschränkungen und Verbote", sagt Mantovani.
Ein wichtiger Rüstungskonzern in der Schweiz ist Rheinmetall, deren Tocher Rheinmetall Air Defence in Zürich vor allem Flugabwehrsysteme produziert. "Rheinmetall hat Ausbaupläne, aber nicht in der Schweiz, wegen eben diesen politischen Restriktionen", ergänzt Mantovani.
Rheinmetall-Chef Armin Papperger sieht den Standort Schweiz zwar noch nicht gefährdet, aber er werde "nicht so wachsen, wie wir das erhofft haben", sagte er Mitte des Monats in einem Interview mit der "Neuen Zürcher Zeitung": "Wenn wir dort nur noch für die Schweiz produzieren könnten, würde sich das nicht mehr rentieren, weil die Schweiz nicht so viel Munition benötigt." In diesem Fall könnte der Standort sogar schrumpfen. "Das hängt ganz davon ab, welche weiteren Restriktionen es gibt."
Auch Militärexperte Mantovani sieht schwere Zeiten auf die Schweizer Rüstungsindustrie zukommen. "Allgemein wird hierzulande befürchtet, dass es in den nächsten Jahren aus politischen Gründen zu einer Verlagerung der Rüstungsproduktion aus der Schweiz weg in andere Staaten kommen könnte."
In den nächsten zwei bis drei Jahren würden zwar noch alte Verträge erfüllt, zitiert die "New York Times" einen Sprecher der Schweizer Rüstungsindustrie, danach sei die Branche aber dem Untergang geweiht. Es gäbe einfach keine neuen Aufträge mehr. Die Europäer und die wichtigsten Akteure der Verteidigungsindustrie würden "immer misstrauischer, wenn es um die Herstellung von Waffen in der Schweiz geht", urteilt die "New York Times".
Selbst Mini-Reform ist gescheitert
Wie kompliziert die Zusammenarbeit mit der Schweiz ist, zeigt sich besonders eindrücklich am Beispiel des Flugabwehrpanzers Gepard, den Deutschland dutzendfach in die Ukraine geschickt hat. Die Munition wird in der Schweiz von Rheinmetall Air Defence hergestellt. Vor der russischen Invasion war es für die deutschen Behörden kein Problem, Munition aus der Schweiz zu ordern. Weil der Käufer - Deutschland - die Geschosse aber nun einer Kriegspartei - der Ukraine - schicken will, blockiert die Schweiz.
Daran dürfte sich zunächst nichts ändern. Mauro Mantovani geht jedenfalls nicht davon aus, dass das Schweizer Neutralitätsrecht kurzfristig angepasst wird. "Die Debatte geht weiter, offensichtlich auch wegen des Drucks aus dem Ausland. Aber ich sehe aufgrund der bereits getroffenen Entscheidungen und der politischen Mehrheitsverhältnisse in unserem Land nicht, wie eine Lockerung in absehbarer Zeit gelingen könnte."
Die Schweizer Parlamentarier haben sich bislang nicht mal auf eine Mini-Reform des Kriegsmaterialgesetzes einigen können. Die Sicherheitspolitische Kommission (SiK) hatte vorgeschlagen, dass Schweizer Waffen künftig an Länder geliefert werden dürfen, wenn sie Opfer eines Angriffskrieges geworden sind und der UN-Sicherheitsrat dies entsprechend verurteilt hat. Der Ukraine würde das zwar kein bisschen helfen, weil Russland als ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat mit seinem Vetorecht sämtliche Beschlüsse blockieren kann und es deshalb nicht zu einem solchen Votum kommen wird. Für diesen Fall sollte aber auch eine Zweidrittelmehrheit in der Uno-Generalversammlung die Wiederausfuhr Schweizer Waffen rechtfertigen. Doch auf diesen Zusatz konnte sich der Nationalrat nicht einigen.
Mantovani macht auf die Möglichkeit aufmerksam, dass das Thema im Parlament erneut diskutiert wird und Waffenlieferungen doch noch erleichtert werden - für die Änderungsvorschläge fehlen oft nur eine Handvoll Stimmen - "aber selbst wenn das Gesetz flexibilisiert würde, gelangt Schweizer Kriegsmaterial erst in ein paar Jahren in die Ukraine, weil es ja nur die zukünftigen Exporte von Waffen oder Munition beträfe." Das heißt, eine Gesetzesänderung hätte für bereits produziertes Material keine Auswirkungen.
"Wieder was gelernt" ist ein Podcast für Neugierige: Warum wäre ein Waffenstillstand für Wladimir Putin vermutlich nur eine Pause? Warum fürchtet die NATO die Suwalki-Lücke? Wieso hat Russland wieder iPhones? Mit welchen kleinen Verhaltensänderungen kann man 15 Prozent Energie sparen? Hören Sie rein und werden Sie dreimal die Woche ein bisschen schlauer.
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Quelle: ntv.de