"Wichtige Fragen unausgegoren" Ökonomen und Verbände bemängeln Entlastungspaket
04.09.2022, 15:04 Uhr
In den Augen von DIW-Chef Marcel Fratzscher lässt etwa die Strompreisbremse viele Fragen offen.
(Foto: picture alliance/dpa)
Gießkanne statt zielgenau, eine "völlig unausgegorene" Strompreisbremse, zu niedrige Zuschüsse - für ihre Pläne zur Entlastung der Bürger erntet die Regierung Kritik von Wirtschaftswissenschaftlern wie Sozialverbänden. Einige Maßnahmen halten aber auch sie für richtig.
Ökonomen sind beim dritten Entlastungspaket der Ampel-Koalition gespalten, Sozial- und Umweltverbände hingegen eint die Kritik. Der Chef des IFO-Instituts, Clemens Fuest, kritisierte die Pläne als zu wenig zielgenau. Positiv sei, dass die Bundesregierung sich "erkennbar bemüht, Preise und damit Anreize für das Energiesparen wirken zu lassen", sagte der Ökonom der "Bild"-Zeitung. Allerdings sei die Koalition hier "teils mit der Gießkanne unterwegs".
Die Entlastung bei den Strompreisen komme auch Haushalten mit höheren Einkommen zugute, die die Strompreise selbst tragen könnten. Die Steuer- und Abgabenbefreiung sei nicht sinnvoll, der Staat sollte die Lohnsetzung den Tarifpartnern überlassen.
Auch in den Augen von DIW-Chef Marcel Fratzscher enthält das Paket "gute Elemente, ist aber bei wichtigen Fragen unausgegoren, verteilt Gelder zu sehr per Gießkannenprinzip und ignoriert den Klimaschutz". Bei der wichtigsten Herausforderung, der Begrenzung von Strom- und Gaspreisen, bleibe die Regierung eine Lösung schuldig, sagte er der "Augsburger Allgemeinen". Die Strompreisbremse sei "völlig unausgegoren", sie werde erst in vielen Monaten, wenn überhaupt, umgesetzt werden können. Und sie lasse viele Fragen offen, beispielsweise wie ein Basisverbrauch definiert werden solle. "Die Bundesregierung koppelt die Strompreisbremse an die Abschöpfung der Übergewinne, ohne einen Plan vorzulegen, wie dies geschehen soll." Die Stärke des Pakets liege in der Erhöhung der Leistungen für die verletzlichsten Menschen.
Lob von der Wirtschaftsweisen Grimm
Die Wirtschaftsweise Veronika Grimm lobte das Entlastungspaket hingegen in einer ersten Reaktion. Die Regierung trage damit "der Tatsache Rechnung, dass die Belastungen durch die aktuelle Krise insbesondere aufgrund der hohen Energiekosten immens sein werden", sagte Grimm der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". "Das ist richtig so." Zuschüsse bekämen nun "im Wesentlichen Menschen, die die Härten besonders weniger selbst abfedern können". Die Maßnahmen am Strommarkt und zur Abfederung der besonderen Belastungen der Gaskunden bleiben aber auch nach Ansicht der Volkswirtin, die Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ist, "noch unkonkret".
Der wissenschaftliche Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, Sebastian Dullien, lobte viele "wichtige und sinnvolle" Einzelmaßnahmen in dem Paket - etwa die gezielte Unterstützung für Rentner und Studenten, die Erhöhung des Kinder- und die Anpassung des Bürgergelds. Damit würden einige Gerechtigkeitslücken geschlossen.
Der Paritätische Wohlfahrtsverband dagegen beklagte eine anhaltende soziale Schieflage. "In diesem Entlastungspaket werden Fehler korrigiert, in dem nun auch Rentner und Studierende berücksichtigt werden", sagte Hauptgeschäftsführer Ulrich Schneider dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. So sei die geplante Wohngeldreform zum 1. Januar ein "überfälliger Schritt". Allerdings kritisierte Schneider, dass der Hartz-IV-Regelsatz erst zum Jahresbeginn auf voraussichtlich 500 Euro angehoben werden soll. Zudem sei die Erhöhung "nicht einmal ein Inflationsausgleich und deshalb überhaupt nicht akzeptabel". "Da werden wir Nachbesserungen einfordern müssen."
WWF: Kontraproduktiv für die Klimaziele
Der Sozialverband Deutschland (SOVD) zog ebenfalls eine kritische Bilanz. "Der Energiekostenzuschuss für Rentnerinnen und Rentner war überfällig. Die einmalige Entlastung reicht aber nicht aus", sagte die SOVD-Vorstandsvorsitzende Michaela Engelmeier den Zeitungen der Funke Mediengruppe. "Das muss verstetigt werden." Zudem fehle eine schnelle Hilfe für Menschen mit kleinen Einkommen, die kein Wohngeld bekommen. "Da reichen die 300 Euro nicht", findet Engelmeier. "Und was völlig fehlt, ist ein fairer Beitrag von Spitzenverdienern zur Finanzierung."
Die Fachbereichsleiterin Klima- und Energiepolitik beim WWF Deutschland, Viviane Raddatz, bemängelte die Pläne als kontraproduktiv für die Einhaltung der Klimaziele. "Wieder werden die dringend nötigen Entlastungsmaßnahmen kaum mit Einsparzielen verknüpft", erklärte Raddatz. "Preisdeckel wie die angekündigte Strompreisbremse setzen keine Einsparanreize und senden ein fatales Signal für die Glaubwürdigkeit der Bundesregierung beim Klimaschutz, ebenso wie die ausgesetzte CO2-Preisanhebung." Der Wille zur Fortsetzung des 9-Euro-Tickets sei gut, "aber vage Ankündigungen und die verhältnismäßig geringe Gesamtsumme von 1,5 Milliarden Euro für den Nahverkehr bringen niemanden in Bus und Bahn".
Quelle: ntv.de, chl/AFP/DJ/dpa