Bundeswehr fehlt weiter Munition Pistorius lässt eine Milliarde Euro liegen


Verteidigungsminiter Pistorius begrüßt im Dezember vergangenen Jahres Soldaten bei der Rückkehr von der MINUSMA Mission in Mali.
(Foto: IMAGO/Political-Moments)
Verteidigungsminister Pistorius macht Munitionskauf zur "Chefsache", aber danach passiert kaum noch etwas. Warum blieben im letzten Haushalt weit mehr als eine Milliarde Euro ungenutzt liegen? Eine einzige Erklärung reicht da nicht aus.
"Priorität 1 hat ab sofort bei allen Beschaffungen der Faktor Zeit. Dem muss sich alles unterordnen." Mit Hauptsätzen wie diesen hat Boris Pistorius sein erstes Amtsjahr geprägt. Das Zitat fiel im April 2023, der Verteidigungsminister stellte ein "Bündel neuer Vorgaben und interner Weisungen" für sein Haus vor, mit denen Tempo in die Truppe kommen sollte - "ab sofort wirksam", so Pistorius.
Besonders viel Wirksamkeit ist beim Thema Munition von Nöten. Denn die ist im Krieg ein sehr entscheidender Faktor - das wurde vielen 2022 bewusst, nachdem Russland begonnen hatte, auf Kiew zu marschieren. Als die Ukrainer sehr bald ihre Depots leergeschossen hatten, räumte Bulgarien seine Lager und sprang der Ukraine bei. Ohne diese Hilfe wäre Kiew wohl schon im Mai des ersten Kriegsjahres verloren gewesen.
Munitionskauf wurde zur "Chefsache". Und dann?
"Ohne Munition nutzen die modernsten Waffensysteme nichts", erklärte Pistorius im vergangenen Sommer und machte Munitionsbeschaffung hemdsärmelig zur "Chefsache". Doch anschließend scheint nicht mehr sehr viel passiert zu sein - denn die finanziellen Möglichkeiten, die der Haushalt 2023 vorhielt, hat das Ministerium (BMVg) bei weitem nicht ausgeschöpft.
Rund 845 Millionen Euro investierte der Bund in Munitionskäufe, weitere 280 Millionen blieben aber ungenutzt liegen. Noch eklatanter ist es bei den Kaufverträgen, die der Haushalt 2023 erlaubt hätte mit Bezahlung erst in den Folgejahren - sogenannte Verpflichtungsermächtigungen. Gerade in der Rüstungsindustrie liegen zwischen Auftragsvergabe und Lieferung sowie Bezahlung viele Monate bis zu mehreren Jahren.
Damit im Haushaltsjahr 2023 auch ausreichend Munitionsaufträge vergeben werden konnten, deren Bezahlung erst die Budgets kommender Jahre belasten würde, hatte die Ampel die Verpflichtungsermächtigungen um eine ganze Milliarde Euro erhöht. Insgesamt durfte das Verteidigungsministerium 1,8 Milliarden Euro in Verträgen für die Zukunft binden. Hätte binden dürfen, muss es heißen. Denn genutzt wurden gerade mal 630 Millionen. Die zusätzliche Milliarde und noch knapp 180 Millionen mehr ließ die Ampel-Koalition verfallen.
CDU und CSU üben daran deutlich Kritik. "Die Zahlen zur Munitionsbeschaffung lassen alle Alarmglocken schrillen", bilanziert der Berichterstatter der Unionsfraktion für den Verteidigungshaushalt, Ingo Gädechens. "Sie wissen, dass wir dringend Munition brauchen - aber es passiert einfach zu wenig." Sein Parteikollege Roderich Kiesewetter illustriert, was "dringend Munition brauchen" konkret heißt: "Noch immer hätte die Luftwaffe im Verteidigungsfall Munition für weniger als einen Tag, das Heer für wenige Tage." Für Außenstehende sei dieses Versagen nicht nachvollziehbar, dass nicht mal in die Vorräte der Bundeswehr investiert wurde, sagt der CDU-Verteidigungsexperte ntv.de. "Nicht mal für unseren eigenen Bedarf sorgen wir vor."
"Jedes Referat kocht sein eigenes Süppchen"
Die Ursachen für die liegengebliebene Milliarde verortet sein Fraktionskollege Gädechens vor allem in den Strukturen des Ministeriums, da "fast zwei Jahre nach Ausbruch des Ukraine-Krieges nach wie vor keine zentrale Zuständigkeit im Verteidigungsministerium für Munition besteht". Jedes Referat solle beim Munitionskauf "sein eigenes Süppchen kochen", die Zuständigkeit sei zerfasert und kein Ansatz für eine massive Ausweitung der Munitionsbeschaffung zu erkennen
Dass solche Kleinteiligkeit dem Ziel, am Ende des Jahres gemeinsam bei 1,8 Milliarden Euro rauszukommen, kaum zuträglich gewesen sein wird, klingt einleuchtend. Zumal es weitere Hinweise gibt, dass Pistorius mit dem Ansinnen, die Abläufe bei der Truppe und im Ministerium auf Tempo und Effizienz zu trimmen, womöglich weniger Erfolg hat als von ihm selbst erwartet und von vielen erhofft.
Monatelang gab der Minister auf Fragen nach einer möglichen großen Reform des Systems die Parole aus: An einem Schiff in voller Fahrt wechselt man nicht Segel und Kapitän. Inzwischen hat er dem Generalinspekteur Carsten Breuer aber doch den Auftrag erteilt, bis April Vorschläge für eine grundlegend neue Struktur der Streitkräfte vorzulegen.
Womöglich musste Pistorius einsehen, dass selbst mit einem ganzen Schwall neuer Verordnungen, interner Weisungen und der Ansage, ab sofort eine Fehlerkultur zu etablieren und Verantwortlichkeit zu stärken, der über Jahre etablierten Bürokratie und Behäbigkeit in seinem Haus nicht ausreichend beizukommen ist. Dann brechen sich die alten Muster selbst bei einer "Chefsache" noch Bahn.
Doch allein mit Inhouse-Strukturproblemen lassen sich weit über eine Milliarde verfallenes Budget kaum erklären. Das Ministerium selbst betreibt - wen wundert's - eher Außer-Haus-Ursachenforschung. Demnach liegt das Problem bei den Munitionsherstellern: "Grund für die Minderausgaben gegenüber der Veranschlagung sind nach wie vor Lieferverzögerungen der Industrieunternehmen, die einen Mittelabfluss verhindern", erklärt auf Anfrage von ntv.de ein Sprecher des BMVg. Gemäß Bundeshaushaltsordnung sei ein Mittelabfluss in der Regel erst bei Lieferung der Produkte möglich.
Wo gibt's TNT?
Doch genau dafür gibt es die Ermächtigungen, um ordentlich einzukaufen und erst Jahre später zu bezahlen, wenn geliefert wird. Wie hier dennoch mancher Teufel im Detail stecken kann, erläutert Alexander Müller ntv.de, Verteidigungsexperte der FDP. Denn auch wenn Munitionsproduktion im Vergleich zur Entwicklung neuer Waffen unaufwändig erscheint, so sind die 18 Produktionsstätten, die in der EU Munition herstellen, häufig auf Zulieferungen aus Staaten außerhalb der EU angewiesen. Zum Beispiel für TNT.
Südafrika ist so ein Nicht-EU-Staat, der eine für die deutsche Rüstungsbranche und auch die anderer Länder wichtige Zulieferindustrie hat. Und Südafrika hat eine klare politische Position bezüglich des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, nämlich: Waffen oder Munition, in denen unsere Vorprodukte integriert sind, gehen nicht nach Kiew. Eine Haltung, die gar nicht so selten ist - die Schweiz etwa vertritt annähernd dieselbe. "Die Bundesregierung möchte keine Munition kaufen, die in ihrer Verwendung in der Form eingeschränkt ist", sagt Müller. Doch Südafrika sei ein wichtiger Produktionsstandort und nicht ohne weiteres zu ersetzen. "Das ist ein wichtiger Grund, warum wir nicht so viel Munition bestellen konnten, wie wir eigentlich wollten."
Auch der Sicherheitsexperte Gustav Gressel sieht bei der Munitionsproduktion Herausforderungen, die alles andere als trivial sind. Denn wer auf dem Weltmarkt die nötigen Vorprodukte einkaufen will, hat Wladimir Putin als eifrigsten Mitbewerber, vor allem um Sprengstoff aus China. Russlands Kriegswirtschaft hat enormen Bedarf an Zulieferprodukten, "der russische Import chemischer Vorprodukte zur Munitionsherstellung ist seit März 2022 in Rekordhöhe geschnellt", sagt Gressel.
Alternativ zu Südafrika kann man versuchen, aus dem NATO-Mitgliedstaat Albanien Dynamit zu kaufen, auch in Bosnien und Serbien stehen Werke, die ohne Beschränkung der Nutzung liefern, Hauptsache, der Preis stimmt. Aus Gressels Sicht sind die EU-Staaten zu spät darauf gekommen, die Lieferketten für Munitionsherstellung genauer anzuschauen und dafür zu sorgen, dass sie verlässlicher werden. "Die EU-Kommission gibt viel Geld aus, um die Problematik jetzt zu lösen", sagt der Wissenschaftler, "Im zweiten Halbjahr 2024 sollte die Situation besser werden".
Eine gute Nachricht für die Bundeswehr. Im Entwurf zum Haushalt 2024 und im Sondervermögen stehen nämlich "insgesamt Verpflichtungsermächtigungen für die Beschaffung von Munition von nahezu 7 Milliarden Euro zur Verfügung", so der BMVg-Sprecher, also mehr als das Dreifache des Budgets vom vergangenen Jahr. Klingt gut, doch die Milliarde für 2023 klang auch gut. Geplante Summen und das, was tatsächlich genutzt wird, können weit auseinander liegen, wie 2023 unfreiwillig bewiesen wurde.
Quelle: ntv.de