"Mord, angeblich aus Liebe" Putin erinnert Harvard-Historiker an eifersüchtigen Ehemann
30.08.2022, 12:23 Uhr (aktualisiert) Artikel anhören
Kremlchef Wladimir Putin schwebt eine großrussische Nation vor, meint der Historiker Plokhii.
(Foto: Pavel Byrkin/Pool Sputnik Kremli)
Der Angriff Russlands auf die Ukraine überraschte die Welt im Februar, obwohl Präsident Putins Politik zunehmend aggressiv wurde. Aus der ukrainischen und russischen Geschichte heraus ist der Krieg für Putin logisch, meint der Harvard-Historiker Plokhii und wählt einen drastischen Vergleich.
Der ukrainische Historiker Serhii Plokhii fühlt sich beim russischen Präsidenten Wladimir Putin an einen eifersüchtigen Ehemann erinnert, "der ein Familienmitglied ermordet hat, angeblich aus großer Liebe". Putin sage nicht nur, dass Russen und Ukrainer ein und dasselbe Volk sind, "sondern er glaubt bis zu einem gewissen Grade offenbar an seine eigene Propaganda", sagte Plokhii dem "Spiegel".
Die Ironie sei, dass Russland angeblich die russischsprachigen Bürger der Ukraine verteidige, so Plokhii, der das Ukrainian Research Institute an der Harvard-Universität in Boston leitet und in Saporischschja im Südosten der Ukraine aufgewachsen ist. "Aber diejenigen, die jetzt am meisten leiden, sind Menschen in den mehrheitlich russischsprachigen Regionen im Süden und Osten der Ukraine."
Nach Putins Machtübernahme sei schnell klar geworden, dass "er imperialistische Ideen hatte". Putins Vorstellungen stammten aus dem imperialistischen Denken und der Ideologie des Russlands des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Demnach teilt der russische Präsident die Idee einer dreiteiligen großrussischen Nation, die "aus den Großrussen (den heutigen Russen), den Kleinrussen (den Ukrainern) und Weißrussen (den Belarussen) bestehen sollte". Putin glaube, dass die Bolschewiken die Ukraine und Belarus als Nationalstaaten geschaffen und Großrussland gespalten hätten.
"Dramatisches Missverständnis"
"Basierend auf seiner konservativen Utopie von Großrussland hatte Putin anscheinend erwartet, dass seine Soldaten als Befreier empfangen würden", so der Historiker, der Anfang September sein Buch "Das Tor Europas - Die Geschichte der Ukraine" veröffentlicht. Stattdessen seien russischsprachige Ukrainer mit ukrainischen Fahnen gegen die Panzer marschiert. "Das 20. Jahrhundert ist das Zeitalter des Zerfalls großer Reiche und des Erstarkens von Nationalstaaten - die Ukraine ist Teil dieser Geschichte. Wer das wie Putin nicht anerkennt, missversteht die Situation dramatisch."
Die Ukraine habe sich nach 2014 immer stärker zu einer politischen Nation entwickelt. Auch wenn dazu noch wenig soziologische Daten vorlägen, vermutet Plokhii, dass der Krieg die "kulturelle und linguistische Ukrainisierung" weiter vorantreibt.
(Dieser Artikel wurde am Sonntag, 28. August 2022 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de, sba