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Rechtloser als Kriminelle Russland hält verschleppte Ukrainer als Geiseln

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Auf diesem vom Pressebüro des ukrainischen Präsidenten zur Verfügung gestellten Foto umarmen sich ukrainische Kriegsgefangene nach dem Gefangenenaustausch Anfang Januar.

Auf diesem vom Pressebüro des ukrainischen Präsidenten zur Verfügung gestellten Foto umarmen sich ukrainische Kriegsgefangene nach dem Gefangenenaustausch Anfang Januar.

(Foto: picture alliance/dpa/Ukrainian Presidential Press Office/AP)

Russland verschleppt nicht nur Kinder, sondern auch erwachsene Zivilisten aus den besetzten Gebieten in der Ukraine. Wie viele Menschen betroffen sind, ist unklar. Für die Ukraine ist jeder Austausch ein Dilemma.

230 Ukrainer sind Anfang Januar im Laufe des ersten Gefangenenaustauschs mit Russland seit August 2023 zurückgekehrt. Darunter waren auch sechs Zivilisten, die in die Ukraine zurückkommen konnten.

Schon der Austausch von Soldaten sowie die Rückholung von nach Russland verschleppten Kindern ist für die Ukraine eine Mammutaufgabe. Ein noch größeres Problem stellen die Zivilisten dar, die überwiegend auf dem von Russland besetzten Gebiet festgenommen und dann nach Russland deportiert wurden. Nach Angaben des Menschenrechtsbeauftragten Dmytro Lubinez konnten bislang nur etwas mehr als 140 in ihr Land zurückkehren.

Offiziell zählt die Ukraine mindestens 763 zivile Geiseln (Stand November 2023). Die Dunkelziffer dürfte allerdings weitaus höher liegen. Lubinez schätzt die Zahl der insgesamt auf russisch kontrolliertem Gebiet vermissten Ukrainer auf mehr als 25.000. Ein bedeutender Teil davon seien verschleppte Zivilisten, meint er, ohne konkretere Angaben zu machen. Ukrainische NGOs, die sich mit solchen Angelegenheiten beschäftigen, gehen von etwa 7500 ukrainischen Zivilisten in Russland sowie in den okkupierten Gebieten aus.

"Es ist besser, wenn du als Krimineller betrachtet wirst"

Eine auch nur halbwegs korrekte Einschätzung ist aus objektiven Gründen nahezu unmöglich. Auf dem Papier macht Russland keinen Unterschied zwischen Kriegsgefangenen und gefangenen Zivilisten, was ohnehin schon ein klarer Bruch der Genfer Konventionen ist. Das russische Verteidigungsministerium behauptet, es behandele ukrainische Zivilisten im "Einklang mit der Genfer Konvention über die Behandlung von Kriegsgefangenen". Das Genfer Abkommen über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten sieht jedoch gar keine Möglichkeit vor, Zivilisten als Gefangene zu nehmen. Geiselnahmen verbietet es ausdrücklich.

Zivilisten können zwar festgenommen werden, haben aber das Recht auf ein "gerechtes und ordentliches Verfahren" in Übereinstimmung mit den Gesetzen und Regeln der Besatzungsmacht. Wie fragwürdig die Perspektive eines fairen Verfahrens im modernen Russland auch klingen mag, übertrifft die Wirklichkeit selbst die Absurdität des russischen Rechts. Als Grund für die Festnahme von Ukrainern in den besetzten Gebieten wird meist "Widersetzung gegen die spezielle Militäroperation" genannt. "Für solche Inhaftierungen müsste es eigentlich im Gesetzbuch einen entsprechenden Artikel geben, der diese 'Widersetzung' zu einer Straftat erklären würde", sagte die russische Juristin Polina Murygina der russischen Redaktion der BBC. "Dann hätten diese Menschen einen Verfahrensstatus und wir könnten einen Anwalt schicken. Doch uns wird gesagt: Wir werfen ihnen nichts vor und beschuldigen sie nicht. Sie wurden nur festgenommen."

Russische Gesetze erlauben die Festsetzung einer Person ohne Gerichtsentscheid für den Zeitraum von maximal 48 Stunden. Auf dem besetzten Gebiet, wo von Moskau Kriegsrecht erklärt wurde, dürfen die Menschen bis zu 30 Tage lang festgehalten werden, aber nur, wenn sie im Verdacht stehen, eine schwere Straftat begangen oder gegen das Kriegsrecht verstoßen zu haben. Tatsächlich werden die weitaus meisten verschleppten Zivilisten deutlich länger als 30 Tage inhaftiert; Zeit, Ort und Grund für die Festnahme werden nur in seltensten Fällen registriert. Verfahren werden nicht eingeleitet, der Aufenthaltsort der Person bleibt meist unbekannt.

"Es ist ein Paradox: Es ist eigentlich besser, wenn du gewissermaßen als Krimineller betrachtet wirst", sagte Murygina der BBC. Eine Person, die offiziell angeklagt wird, existiert im russischen Rechtsbereich wenigstens und hat zumindest einige Rechte. Angeklagt werden aber fast nur diejenigen, die unter angeblichem Terrorismusverdacht stehen. Fast alle anderen müssen ohne Schutz, ohne Anklage und ohne Gerichtsverfahren in russischen Untersuchungshaftanstalten oder Strafkolonien sitzen - und können anders als Kriegsgefangene bis auf wenige Ausnahmefälle kaum ausgetauscht werden.

Für die Ukraine ist jeder Austausch ein Dilemma

Was Russland für "Widersetzung gegen die spezielle Militäroperation" hält, ist schwer zu sagen und hat wohl gar keine durchdachte Logik hinter sich. Ukrainische Menschenrechtler, etwa von der Medieninitiative für Menschenrechte, sagen, es sei auffallend, dass die Zahl der Inhaftierungen stets dann stieg, wenn die Ukrainer vor oder mitten in erfolgreichen Offensivoperationen standen. Oft werden Menschen festgenommen, weil die Russen sie verdächtigen, der ukrainischen Armee Hinweise gegeben zu haben, wo ihre Raketen oder ihre Artilleriemunition eingeschlagen ist - damit die dann den Kurs bei künftigem Beschuss korrigieren kann. Meist wohnen die Leute aber wohl einfach zu nah an einer für die Russen militärisch wichtigen Ecke. Sie schließlich in russischen Gefängnissen zu finden, ist eine nahezu unmögliche Aufgabe.

Fast das Einzige, was dabei hilft, sind Aussagen bereits zurückgeholter Zivilisten, die sich an Zellengenossen oder an Vor- und Nachnamen erinnern, die sie gelegentlich gehört haben. Das kann auch deswegen effektiv sein, weil ukrainische Zivilisten in Russland größtenteils getrennt von anderen Häftlingen festgehalten werden. Weil das Völkerrecht keine Mechanismen vorsieht, wie Zivilisten aus der Gefangenschaft zurückgeholt werden können, sind internationale Organisationen machtlos. Effektiv kann lediglich der Einsatz von Drittländern als Vermittler sein, wie das Anfang Januar mit den Vereinigten Arabischen Emiraten der Fall war.

Auf welcher konkreten Grundlage damals sechs Zivilisten zurückkehren durften, ist unbekannt. Klar ist jedoch, dass für die Ukraine mehrere schwierige Entscheidungen damit verbunden waren. Kiew kann es sich kaum erlauben, stets Zivilisten gegen Soldaten auszutauschen, weil dies Russland dazu motivieren könnte, noch mehr zivile Geiseln zu nehmen, um eigene Gefangene zu befreien. Eigene, faktisch recht- und schutzlose Staatsbürger aus Russland zurückzuholen, ist daher immer ein kompliziertes Spiel mit dem Feuer.

Quelle: ntv.de

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